Kylian Mbappé wird vom Halbgott zum Sterblichen
Als ihm klar wurde, was gerade passiert war, guckte Kylian Mbappé zum Schiedsrichter wie ein verurteilter Schwerverbrecher, der vergeblich auf eine Begnadigung in allerletzter Sekunde hofft. Vielleicht war Yann Sommer zu früh von seiner Linie gesprungen? Vielleicht konnte er den Elfmeter wiederholen? Vielleicht war das alles nicht wahr?
Man konnte es dem 22-Jährigen nicht übel nehmen. Denn sein verschossener Elfmeter im EM-Achtelfinale gegen die Schweiz war die erste richtige Tragödie seiner jungen Karriere. Als Kind des Videobeweises hatte er natürlich kurz gehofft, dass er von einer höheren Auflösung oder einer kalibrierten Linie gerettet würde. Für den Zuschauer war das trotzdem schade, denn normalerweise sind solche Momente im Fußball auch so rührend, weil sie so unmittelbar und unumkehrbar sind. In einem Augenblick wird ein Halbgott zum Sterblichen, ein Genie zum gewöhnlichen Menschen.
„Es wird schwierig, das wegzustecken. Schlaf zu finden, wird schwierig sein, aber das sind leider die Unwägbarkeiten dieses Sports, den ich so sehr liebe”, schrieb Mbappé mitten in der Nacht auf Instagram, und entschuldigte sich bei den Fans für den Fehlschuss. Ihm steht jetzt ein ähnlicher Kampf bevor, den viele große Fußballer schon vor ihm bestreiten mussten.
Vom Ausnahmespieler zur tragischen Figur
In der langen Geschichte solcher Schicksalsschläge ist der von einem vermeintlichen Superstar vergebene Elfmeter ein Genre an sich. In Deutschland allein gibt es zahlreiche Beispiele, von Uli Hoeneß im EM-Finale 1976 über Lothar Matthäus im Pokalfinale 1984 bis hin zu Bastian Schweinsteiger im Champions-League-Finale 2012.
So richtig reif wurde aber das Elfmeterschießen – und damit auch der tragisch gefallene Held – erst in den 1990er Jahren. Neben zahlreichen Engländern gab es auch den Niederländer Marco Van Basten, der bei der EM 1992 für den Titelverteidiger kein einziges Tor schießen konnte, und dann den entscheidenden Elfmeter im Halbfinale gegen Dänemark verschoss. Und dann gab es natürlich auch Roberto Baggio.
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Bei der WM 1994 – aber auch davor – hatte sich der Italiener, den man “den göttlichen Pferdeschwanz” nannte, als der damals beste Spieler der Welt bewiesen. Ähnlich bezaubernd und modern wie heute Mbappé, Baggio konnte in den USA nichts Falsches machen, bis er im Finale den entscheidenden Elfmeter hoch in den kalifornischen Himmel lancierte.
In einer Sekunde wurde aus dem Ausnahmespieler ein Mann, der für den Rest seines Lebens als tragische Figur gelten sollte. Wie das englische Magazin “FourFourTwo” vor einigen Jahren nacherzählte, flüchtete der leidenschaftliche Jäger und gläubige Buddhist nach seinem Fehlschuss in die Natur. Doch auch auf seiner Ranch in Argentinien fand er seine Ruhe nicht, und musste sogar den Vorwurf bestreiten, auf einen Journalisten geschossen zu haben.
Moment des Zusammenbruchs
Ähnlich schlecht ging es vier Jahre zuvor Paul Gascoigne, der schon als 23-Jähriger den wohl prägendsten Moment seiner Karriere erlebte. Im WM-Halbfinale gegen Deutschland verschoss “Gazza” keinen Strafstoß, beim wohl talentiertesten englischen Spieler der letzten 50 Jahre kullerten schon vorher den Tränen, weil er in einem Zweikampf mit Thomas Berthold die Gelbe Karte gesehen hatte, und damit für das Finale gesperrt gewesen wäre. Beim Spaßvogel Gascoigne kochten die Emotionen sofort hoch und er musste sich damit trösten, dass am Ende sowieso die Deutschen gewannen.
Beim Spaßvogel Gascoigne kochten die Emotionen sofort hoch, die Tränen kullerten, und am Ende gewannen sowieso die Deutschen. Der Mann, der England ins Finale bringen sollte, hatte stattdessen für den Moment des Zusammenbruchs gesorgt.
In den Jahren danach wurden “Gazza’s Tears” zum Sinnbild vom unerfüllten Versprechen des englischen Fußballs. Der Spieler selbst, der später oft mit Alkohol und Depression kämpfen musste, konnte Berthold nie verzeihen. “Es war eine Schwalbe, das machten die Deutschen doch immer,” sagte er der Observer in einem Interview 2002. “Berthold war ein Arschloch, ein großer Mann mit einem Mund wie ein Fisch. Er war ein Wichser und ein Betrüger.”
Deschamps könnte jetzt zurücktreten
Doch manchmal ist der plötzliche Sturz einer Legende erstaunlich unemotional. Die wohl berühmteste Fußballtragödie des 21. Jahrhunderts fand etwa 2006 im Berliner Olympiastadion statt. Im WM-Finale spielte der große Zinedine Zidane das allerletzte Spiel seiner glänzenden Karriere, und hatte seine Mannschaft schon in Führung geschossen.
In der Verlängerung, beim Spielstand von 1:1, sah er aber plötzlich Rot. Weil der Italiener Marco Materazzi offenbar seine Schwester beleidigt hatte, verpasste ihm Zidane einen Kopfstoß.
Später sprach der Franzose von der Leidenschaft und der Wut, die ihm in diesem Moment überkommen hätten. Für den Zuschauer war der Kopfstoß aber auch deshalb ikonisch, weil er eben nicht wie ein Ausraster wirkte. Zidane drehte sich einfach um, guckte Materazzi kurz in den Augen, und platzierte seinen Kopf elegant und entschlossen unter dem Nacken des Italieners. Dann schaute er noch einmal mit Verachtung auf sein Opfer und lief schweigend in den Tunnel.
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Womöglich war er so ruhig, weil er anders als Gascoigne, Baggio oder Mbappé nichts mehr zu verlieren hatte. Die WM hatte Zidane schon einmal gewonnen, in seiner Karriere gab es keine offene Rechnung mehr. Womöglich hat er aber als Trainer nun eine neue Herausforderung. Denn der frühere Coach von Real Madrid wird schon jetzt als nächster Frankreich-Trainer gehandelt, falls Didier Deschamps nach der Blamage von Montag zurücktreten sollte.
Wenn es tatsächlich so kommt, muss sich Zidane wohl zuerst um Kylian Mbappé kümmern. Denn der Junge, der in den letzten Jahren so befreit und sorglos spielte, hat nun eine emotionale Bürde. Er muss jetzt lernen, mit den traumatischen Unwägbarkeiten des Fußballsports umzugehen.