Vorwärts nimmer, rückwärts immer
Den Zeitstrahl, der von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft strebt, umzudrehen, ist bekanntlich ein Ding der Unmöglichkeit. Der Berliner Zeichner Henning Wagenbreth versucht es trotzdem. In seinem herrlich irrwitzigen Bilderbuch „Rückwärtsland“ präsentiert er eine Welt, in der alles andersrum funktioniert und dennoch einer strengen Logik folgt.
Die Polizei verschenkt Ordnungsgeld
Wenn ein Radfahrer rücksichtslos durch Parks und Gassen brettert und dabei mit Fußgängern kollidiert, bekommt er dafür zuvor ein Ordnungsgeld von der Polizei geschenkt. Archäologen vergraben Scherben in der Erde. Boxer heilen mit gezielten Schlägen blaue Augen, beobachtet von Betrunkenen, denen Flaschen das Bier aus dem Magen saugen. Fußballspiele, die hier allerdings „Eleipsllabßuf“ heißen, beginnen mit einem 5:3 oder 1:4 und enden versöhnlich mit 0:0. „Tore werden, ungelogen, vom Ergebnis abgezogen“, reimt Wagenbreth. Ein Pokal, den die Spieler in die Höhe stemmen, wird ihnen gleich danach schon wieder weggenommen.
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Das Gulasch, das eine Familie als Sonntagsbraten isst, bringt die Mutter zurück zum Metzger, es landet wieder im Schwein, das im Schlachthof per Elektrokeule zum Leben erweckt wird. Am Ende grast das Borstenvieh glücklich grunzend mit Artgenossen vor seinem Bauernhof. Im Krieg bauen Kanonen Häuser und Atomrakete ganze Städte. So wird das Rückwärtsland zum Paradies auf Erden. Der Tod ist abgeschafft.
[Henning Wagenbreth: Rückwärtsland. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2021. 40 Seiten, 25 €]
Das Prinzip der verkehrten Welt hat eine lange Tradition. In mittelalterlichen Dichtungen werden Jäger von Hasen gebraten, F. Scott Fitzgerald ließ seinen Helden Benjamin Button als Greis zur Welt kommen und als Baby sterben. Wagenbreth gelingt mit „Rückwärtsland“ die Neuerfindung des Bilderbogens aus dem Geist des Comics. Das Buch endet mit Knittelversen wie von Wilhelm Busch. „Wir haben hier im Rückwärtsland / nun so einiges gesehen. / Vielleicht ist es an der Zeit, / besser wieder umzudrehen?“. Wer mag, kann weiterzulesen, diesmal vielleicht von hinten nach vorn.