Berlin, Blicke
Ulrich Peltzer war sofort einverstanden. Eine Verabredung an einem der Schauplätze seines neuen Romans „Das bist du“, warum nicht, aber bitte, schrieb er in der Mail, „frei und fern von jeder Nostalgie“.
Also steht Peltzer an diesem Freitagmittag am Mehringdamm, Ecke Bergmannstraße, noch lässiger aussehend als auf dem Autorenfoto, das ihn mit Zigarette, offenem weißen Hemd und blauem Sakko zeigt.
Das graue Haar ist lang geworden, er hat es eng nach hinten zurückgekämmt, ein voller Bart ist ihm gesprossen, und er trägt casual Neunziger-Jahre-Kluft, T-Shirt unter dem Jeanshemd, die kurze Jacke darüber.
Wir marschieren gleich in Richtung Platz der Luftbrücke den Mehringdamm hoch, zu dem Haus, in dem sich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre eine der Absturzbars des West-Berliner Nachtleben befand: das Basement.
Im Kant-Kino spielten Police vor 120 Leuten
Wie es so geht, Nostalgie hin oder her, dreht sich das Gespräch sofort um bestimmte Läden jener Zeit. Um Kinos beispielsweise, in denen auch Konzerte stattfanden, etwa das Kant-Kino. Peltzer: „Der Typ, der das organisierte, Conny hieß er, war eine legendäre Figur und hatte einen Riecher. Bei dem traten Police vor 120 Leuten auf, und ein Jahr später spielten die in der Deutschlandhalle. Dasselbe passierte mit den Talking Heads. Conny verspekulierte sich dann wahnsinnig mit Extrabreit, für die er in Westdeutschland riesige Hallen mietete. Die Tour lief gar nicht, und er blieb auf den Schulden sitzen.“
Der Held und Ich-Erzähler von Peltzers Roman (S. Fischer Verlag) arbeitet in einem – in diesem Fall nicht näher bezeichneten – Kreuzberger Programmkino. Er studiert Psychologie an der FU, liest Paveses „Der schöne Sommer“ oder Rolf Dieter Brinkmanns „Rom, Blicke“, den „Anti-Ödipus“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari oder Theweleits „Männerphantasien“.
Er macht hier lose Bekanntschaften mit Frauen, verliebt sich dort in Leonore, mit der er dann zusammen ist, und geht viel aus: ins Shizzo, ins Basement, den Dschungel oder in „eine winzige Bar auf der Hauptstraße, die Schneecafé hieß, das Bild zersplittert“.
Peltzer kam aus Krefeld Mitte der 70er nach West-Berlin
Und: Trotz des Psychologiestudiums ist ihm die Literatur, das Schreiben viel näher. Peltzers Erzähler will nicht nur Schluss mit den Utopien machen und sich verausgaben, denn „nur so konnte Neues entstehen. Umherschweifend, sich jeder Erfahrung öffnend.“ Nein, er hat vor, sein Leben in Worte zu fassen, es sprachlich zu verwandeln, und macht sich unentwegt Notizen.
Irgendwann stellt sich ihm die Frage, „ob man die ganze Geschichte schon im Kopf haben muss, bevor man zu erzählen beginnt, oder ob alles vom ersten Satz abhängt. Aus dem dann der zweite folgt, der dritte, bis es zu Ende ist.“
Peltzer erzählt seinen Roman aus der Perspektive des gereiften Autors, der zurückblickt auf diese mitunter mythenumflorte West-Berliner Zeit um 1980 herum, von der beispielsweise auch Sven Regener mit „Kleiner Bruder“ oder Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland mit „Aufprall“ erzählt haben.
Peltzer kam aus Krefeld nach Berlin, studierte wie sein Held Psychologie, trieb sich herum, versuchte herauszufinden, wer er ist, was er tun will. Mit „Sünden der Faulheit“ veröffentlichte er 1987 seinen Debütroman und 1995 den großen Berliner Gegenwartsroman „Stefan Martinez“, der nach dem Fall der Mauer konsequent in West-Berlin spielt.
[Behalten Sie den Überblick über die Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]
Er ließ weitere, vor allem gesellschaftskritische Romane folgen, so 2015 „Das bessere Leben“; ein Roman über die globalisierte Finanzwelt, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand.
„Das bist du“ ist erkennbar autobiografisch, ein Erinnerungsroman. Es ist der erste Roman, den Peltzer in der Ich-Form geschrieben hat. Doch er warnt schon auf dem Weg zum ehemaligen Basement, dass „Das bist du“ sicher kein „Memoir“ sei, sondern eben ein Roman, er aus der unzuverlässigen Erinnerung heraus geschrieben habe: „Das Ich in dem Roman hat starke fiktive Anteile“, wird er später sagen.
„Ich weiß manche Sachen einfach nicht mehr. Mir geht es darum, mich nicht selbst zu betrügen. In dem Buch steht keine Geschichte drin, die ich mir nicht selbst geglaubt habe.“
Tatsächlich existiert in dem Haus an der Ecke Fidicinstraße/Mehringdamm weiterhin ein Laden: die Mandingo Discothek Bar, „die gibt es schon ewig“.
Gitter vor den Fenstern, nicht unbedingt einladend – und geschlossen, ohne dass man erkennen könnte, ob das coronabedingt ist oder die Bar nur nachts auf hat.
Das Basement war eine Absturzbar am Mehringdamm
Peltzer erinnert sich in seinem Roman doch sehr präzise an das damalige Basement: „Durch eine Stahltür ein paar Stufen vom Bürgersteig hinunter ins Souterrain. Zwei langgestreckte, nicht sehr hohe Räume, vorne eine rechteckige Theke, um die man herumgehen konnte, hinten rechts eine kleine, von stabilem Maschendraht eingezäunte Tanzfläche. Wie so ein Schutzkäfig beim Hammerwerfen. Diskuswerfen. Unter den abgedichteten Fenstern zur Straße war eine podestartige Erhöhung mit ein paar Tischen und Stühlen (…), links neben der Tanzfläche die Toiletten und ein halbdunkler Gang, der auf die andere Seite der Theke führte.“
Er sei oft hier, überhaupt viel in den einschlägigen West-Berliner Bars unterwegs gewesen. „Die Szene war klein und hier in der Gegend war ja sonst nichts. Auch in der Bergmannstraße gab es keine Gastronomie, nur ein paar Trödelläden.“
Den Vorschlag, zurück Richtung Yorckstraße zu gehen, zum Yorck-Kino, lehnt Peltzer ab: „Das ist mir zu konkret“. Stattdessen schlägt er die um diese Uhrzeit schon sehr belebte Bergmannstraße vor, und wir gehen ins Milagro; auch so ein Evergreen, nicht aus der frühen Düster-Berlin-Zeit, eher aus den neunziger Jahren und unverändert seitdem.
Peltzer hat nichts dagegen, weiter in die Stadtgeschichte einzutauchen, in die der Szenebars. Er erwähnt eine Kellerbar in der Mittenwalder Straße, die wie eine Bleikammer von innen aussah, silbrig ausgelegt, er erinnert sich an die „Ruine“ am Winterfeldtplatz, „ein reines Trinkerlokal“, an das Ex’n’ Pop in der Potsdamer und der Mansteinstraße. Und dass es keine Türsteher gab, jeder, „der halbwegs noch auf den Beinen war und nicht völlig sturztrunken“, kam überall rein.
“Der US-Punk hat mich von Dylan befreit”
„Was glauben Sie, was es für eine Offenbarung war, Blondies ,Denis, Denis‘ erstmals im Dschungel zu hören“, im übrigen dem ersten Dschungel am Winterfeldtplatz, aus dem nach dessen Umzug in die Nürnberger Straße das Slumberland wurde: „Ich dachte, wow, was ist das. Ein Song wie dieser, überhaupt der frühe US-Punk, Bands wie Television oder Patti Smith, das hatte mich von Dylan befreit, von dem ich zwischen 17 und 21 quasi abhängig war“.
Was er im Milagro trotzdem noch einmal betont, von wegen Nostalgie: Sentimentalität sei seine Sache nicht. So wie er in seinem Roman schreibt: „Es gibt kein Zurück, das muss man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen. Nichts dauert ewig, selbst der Schmerz vergeht.“
Kaltes, klares Wasser: Damit könnte man Peltzers Sprache vergleichen, die kurzen Schnitte beim Erzählen. „Es ist für mich stets unbegreiflich, wie chronologisch es oft in Erinnerungsromanen zugeht“. Und: „Mir fällt beim Schreiben viel ein, und das bewegt sich auf dem schmalen Grat von Erinnerung, Erfahrung, Recherche und Imagination, das changiert ständig hin und her.“
Hört man Peltzer zu, wie er mit leiser, ruhiger Stimme seine Sätze entwickelt, erinnert er natürlich an den Ich-Erzähler seines Romans. Doch ist er gern bereit, abzuschweifen. Er gesteht, wie befriedigend für ihn die Gastprofessur an der Kunsthochschule für Medien in Köln in den vergangenen Jahren gewesen sei. Und auch ökonomisch wichtig während der Pandemie, ohne Lesungen und dem späten Erscheinen dieses Romans, der 2020 schon erscheinen sollte.
Und dann taucht auch noch Thomas Melle auf…
Er erwähnt Joe Jackson, den er oft im “Würgeengel” sitzen sieht, „immer allein am Trinken, der wohnt schon lange in Berlin“. Oder dass der Filmemacher Christian Pätzold früher im “Basement” aufgelegt habe, „das wusste ich natürlich nicht“.
Und er freut sich, als plötzlich sein Kollege Thomas Melle mit dem Fahrrad vorbeifährt und zu einem Plausch stehen bleibt: „Den kenne ich doch, den Zausel“, begrüßt Melle ihn. „Was ist denn mit dir los?“ – „Corona-verwahrlost. Kein Friseur, keine Rasur“, antwortet Peltzer und lacht. – „Und du fraternisierst wieder mit der Kritik?“, fragt Melle noch, ohne darauf eine Antwort haben zu wollen.
„Ein schönes Sonic-Youth-T-Shirt hatte Thomas an“, fällt Peltzer auf, ganz alte popkulturelle Schule, der er entstammt. Um sogleich wieder auf den Roman zurückzukommen: „Es geht darin ja darum, wie Wege sich verzweigen. Das war beim Schreiben sehr schmerzhaft. Viele Dinge im Lauf eines Lebens entspringen keinen heroischen Entscheidungen. Sein Thema ist nicht nur die Stimmung jener Zeit, sondern auch die Zufälligkeit von Biografien.“
Aus seiner Biografie ist ein Berliner Leben geworden. „Ich war ein Jahr lang mal in New York, und ich könnte mir jetzt auch Köln gut vorstellen als Großstadt“. Doch sei das mit Berlin schon gut so und er sehr zufrieden, sagt er, als wir wieder zurück zum Mehringdamm laufen, es gebe ja sowieso kein Zurück.
Dann verabschiedet er sich und macht sich auf den Weg nach Hause, ans Maybachufer, wo er seit über fünfzehn Jahren wohnt.