Warum die Tour de France für die Krebsforschung nützlich sein könnte
Wie lang ein Rennen auch ist, wie anstrengend es war, wie sehr er sich selbst verausgabt hat – Tadej Pogacar sieht im Ziel eines Rennens oft noch frisch und munter aus, dass man ihm zutrauen würde, gleich noch eine weitere Etappe ranhängen zu können. So war der Eindruck bereits im letzten Jahr bei der Tour de France. So ist es auch in diesem Jahr. Sei es nach dem Zeitfahren, das er gewann, oder der Mammutetappe über 249,1 km am Freitag – stets wirkte er weniger erschöpft als die Konkurrenz.
Gut, das weiße Trikot, das er als bester Jungprofi am Leibe hat, trägt zum Eindruck von Frische, Reinheit und Unschuld noch bei. Aber im Kreise der vielen Lädierten und Erschöpften dieser ersten Tour-de-France-Woche erinnerte er glatt an Parzival, den jungen Ritter, der die alte Tafelrundengarde rings um König Artus mit Leichtigkeit aufmischt.
Klar, Pogacar ist ein Talent, ein großes sogar. Aber auch Talente entfalten sich besser, wenn das Feintuning stimmt. Für das physiologische Feintuning bei UAE ist Inigo San Millan zuständig. Der Baske hat selbst eine Radsportvergangenheit. Seit mehr als zehn Jahren forscht er aber in den USA zu Therapien gegen Diabetes und Krebs.
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Und dabei ist er auf die Wirkungsgweise der Mitochondrien gestoßen. Das sind Zellbestandteile, die für die Energiegewinnung zuständig sind. Sie produzieren ATP, ausgeschrieben Adenosintriphosphat. Das Molekül ist der universelle Energieträger im menschlichen Körper. „Das Spannende ist, dass die Mitochondrien von Ausdauerathleten perfekt arbeiten. Bei Patienten mit Diabetes oder Tumoren kommt es aber zu Fehlfunktionen der Mitochondrien“, erklärt San Millan.
Sein Ziel ist es, aus dem Vergleich von perfekt und nicht perfekt funktionierenden Mitochondrien die Wirkungsweise der Krankheiten auf zellulärer Ebene besser zu verstehen, und daraus dann auch neue Diagnose- und Therapieansätze zu entwickeln.
„Es geht darum, eine begrenzte Leistung länger zu bringen“
Ein Beiprodukt davon ist das Feintuning von Ausdauerathleten. „Ja, das bringt tatsächlich etwas. Die Methode ist effektiv“, erzählt Jereon Swart, Coach beim Rennstall UAE und auch bei der Tour de France dabei. Das Mitochondrientraining findet vor allem im Winter und frühen Frühjahr statt, also dann, wenn traditionell an der Grundlagenausdauer gearbeitet wird.
„Die Fahrer machen dann sehr spezifische Trainingseinheiten in den Vorbereitungszeiten. Sie trainieren am Anfang mindestens vier Tage die Woche einige Stunden in einer speziellen Intensitätszone. Es erweitert die Sauerstoffaufnahmekapazitäten in dem Bereich, in der wir die maximalen Sauerstofffluss im Kohlenhydratstoffwechsel haben. Wir stimulieren die Masse an Mitochondrien, die daran beteiligt ist“, erläutert Swart weiter.
Die Intensitätszone, um die es geht, liegt eher im unteren Bereich. „Es geht darum, eine begrenzte Leistung länger zu bringen, auf den langen Anstiegen der Tour zum Beispiel“, meint er. Was da genau in Sachen Energiebereitstellung und Energieverbrauch geschieht, erläutert San Millan an einem Vergleich mit einem Fahrzeugmotor.
„In dieser Zone stimuliert man die langsamen Muskelfasern am meisten. Das ist wie der erste Gang beim Auto. Wenn man dort im roten Bereich ist, fordert das Auto einen ja meist auf, in den zweiten Gang hochzuschalten. Im Training macht man das aber nicht. Und deshalb wird der Körper stärker. Er passt sich an, wird kräftiger in diesem Gang.“ Vor allem greift die Arbeit in diesem „ersten Gang“ auf andere Energiereserven zu, auf Fette und Kohlenhydrate. Die wertvolleren Glukosevorräte, die für den „zweiten Gang“, also die explosiveren Antritte, benötigt werden, bleiben unberührt.
Auf die Tour de France angewandt bedeutet dies, dass Pogacar und Co. aufgrund ihres gezielten Mitochondrientrainings manchen Anstieg noch im ersten Gang hochkommen, während die Konkurrenz schon hochschalten muss. „In dem Moment, in dem man zu den schnelleren Muskelfasern überwechselt, kann die Energienachfrage nicht mehr durch Fett befriedigt werden.
Man muss auf einen anderen Brennstoff zugreifen. Wir sehen in diesem Moment einen Abbau an Fettverbrennung und einen Anstieg des Glukoseverbrauchs“, hat San Millan beobachtet.
Verwissenschaftlichung des Radsports
Soweit die Theorie. Bei den Fahrern selbst kommt dabei nicht unbedingt viel an. Pogacars Teamgefährte Brandon McNulty bemerkte auf Nachfrage von Tagesspiegel keine relevanten Veränderungen in seinem Körper aufgrund des Mitochondrientrainings. „Wir trainieren ganz normal, essen ganz normal, die klassische Vorbereitung“, meinte der US-Amerikaner.
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Bei Fahrern anderer Rennställe sind Mitochondrien ohnehin kein Thema. „Keine Ahnung, das ist neu, und zumindest bewusst mache ich so etwas nicht“, sagte der Däne Jakob Fuglsang. Und der Berliner Simon Geschke meinte: „Davon habe ich noch nie was gehört. Ich kann nichts sagen dazu, ich bin kein Biologe.“
Die Coaches von anderen Rennställen beschäftigen sich aber durchaus mit dem Thema. „Man muss sich als Trainer intensiv mit dem Stoffwechsel auseinandersetzen, um zu wissen, welchen Effekt man mit welchem Training erreicht. Das beginnt auf der Zellebene“, meinte Dan Lorang, Trainer des Ravensburger Rundfahrers Emanuel Buchmann zum Tagesspiegel.
Auch er guckt also, was die Zellen zum Training sagen. Das ist ein weiterer Schritt in der Verwissenschaftlichung des Radsports. Lorang stellte aber auch klar: „Es gibt aktuell kein Wundertraining. Die neuen Erkenntnisse erklären nur besser, wieso das Training, das man gemacht hat, so wirkt, wie es eben wirkt.“
Und wenn die Erkenntnisse, die Krebs- und Diabetes-Forscher San Millan in der Arbeit mit den Profis gewinnt, zur Entwicklung neuer Therapieansätze für die Normalbevölkerung beitragen, dann wird die Tour sogar nützlich.