Die scheue Löwin: Zum Tod von Carla Bley
Die Haare ein Gebirge und ein Versteck. Unter Carla Bleys Löwenmähne mit dem Pony lebte eine scheue, an sich selbst zweifelnde und zugleich mit einem knochentrockenen Humor begabte Frau, die selbst nicht immer wusste, wie sie Wesen und Erscheinung miteinander in Einklang bringen sollte. Bis ins hohe Alter aber ging von dieser Spannung eine Würde aus, die noch die zerbrechliche, auch in der Pracht ihres Schopfes bereits sichtlich dezimierte Frau verkörperte, die ihr Lebensgefährte und musikalischer Komplize, der Bassist Steve Swallow, behutsam ans Klavier führte, wo sie im Trio mit dem Tenorsaxofonisten Andy Sheppard von den jüngsten Kompositionen durch Jahrzehnte eines imposanten Werks bis zu den ältesten hinabtauchte.
Beim Enjoy Jazzfestival in Ludwigshafen 2019, dem letzten von vielen Konzerten, das der Autor dieser Zeilen mit ihr erlebte, war „Vashkar“ für das mit Billy Drummond zum Quartett erweiterte Trio eine der ältesten. Verglichen mit den skizzenhaften Themen, die sie ihrem ersten Mann, dem Pianisten Paul Bley, in den 1960er Jahren sonst noch in die Finger legte, handelt es sich um ein ausgearbeitetes Stück. Unter akademischen Aspekten müsste man die schroffe Modulationslust dieser in h-Moll beginnenden und in b-Moll landenden Ballade wohl dilettantisch nennen. Der Charme ihres Stils besteht jedoch nicht nur hier darin, halbtonweise auf andere Tonarten zuzukriechen, um dann unvermittelt woanders hinzuspringen.
In Verbindung mit einer nicht minder eigenwilligen Melodie fällt „Vashkar“, so schmissig und eingängig sie später zum Teil komponierte, sicher nicht in die Kategorie eines Ohrwurms. Aber wie an vielen anderen Stücken aus jenen Jahren, die Paul Bley populär machte, „Ictus“, „Syndrome“, „Donkey“ oder das unverwüstliche „Ida Lupino“, arbeiten sich nachwachsende Generationen von Jazzmusikern bis heute an ihnen ab. Abseits von Standards entdecken sie in Carla Bleys frühen, oft kaum über die erste Idee hinausgekommenen Motivverkettungen eine funkelnde Fremdheit, die sich aus immer neuen Blickwinkeln betrachten lässt.
Carla Bley, 1936 unter dem Namen Lovella May Borg als Tochter eines Klavierlehrers und Kirchenmusikers in Kalifornien geboren, war mit 17 Jahren nach New York gezogen und hatte dort im berühmten Birdland gejobbt, wo sie dem aufstrebenden Paul Bley begegnete. Es waren die Jahre, in denen der Bebop müde geworden war, und der Free Jazz erste Anstalten machte, alle herkömmlichen Bindungen hinwegzufegen: Entwicklungen, die sie, aus einer klassisch geprägten Welt kommend, aus nächster Nähe aufsog.
Als Pianistin blieb sie technisch beschränkt. Ihre Originalität zeigte sich im Komponieren und Arrangieren. Dass sie zunächst ohne Kenntnis von Jazzharmonien zu Werke ging und einen Hauch alteuropäischer Kunstmusik mitbrachte, ein Quäntchen eislerhaftes Pathos und einen guten Schwung zirkushaften Übermuts, machte sie für den Vibraphonisten Gary Burton („A Genuine Tong Funeral“), den Bassisten Charlie Haden und sein Liberation Music Orchestra oder das Jazz Composers Orchestra, an dem ihr zweiter Mann, der Trompeter Michael Mantler beteiligt war, erst richtig attraktiv.
Als ihr Meisterwerk gilt die sogenannte Jazzoper „Escalator Over the Hill“ mit Texten des Dichters Paul Haines. In den Jahren 1969 bis 1971 entstanden, war es eher ein Experiment in der großen Form mit gewaltigem Apparat. Doch hier trainierte sie an der Grenze zur Big Band jene ironisch eingefärbte Jazztheatralik, die sie in den folgenden Jahren zu großen Publikumserfolgen führte.
Ein fast zappaesker Witz prägte ihre öffentlichen Auftritte, bei denen sie von der Orgel aus mit halb ungelenken, halb zackigen Bewegungen die Dompteuse ihrer wilden Truppe spielte.
Zwischen freejazzhaften Aufwallungen („Jazz Realities“) und Anwandlungen zur Fahrstuhlmusik („Night-Glo“) hat Carla Bley, die abseits ihres Berufs ein unbezwingbares Faible für das Gärtnern und ein zurückgezogenes Leben hatte, ein weites Feld bestellt. Mit der Gründung des eigenen Labels Watt hat sie bei alledem versucht, auch wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen. Am vergangenen Dienstag ist sie mit 87 Jahren gestorben.