Der Schweigensverwandler
Es wirkt jetzt an diesem Dienstagvormittag, nach der traurigen Nachricht von seinem Tod, als habe Friedrich Christian Delius mit seinem letzten, im Herbst des vergangenen Jahres veröffentlichten Buch „Die sieben Sprachen des Schweigens“ wenigstens einmal doch Bilanz ziehen wollen.
Obwohl seine Bücher zunehmend autobiografische Züge trugen, wollte er nämlich von der Tendenz zum Bilanzieren im höheren Alter nichts wissen: „Wenn ich Bilanz ziehen könnte, würde ich keine Bücher schreiben“, sagte er in einem Gespräch 2011, kurz bevor ihm der Georg-Büchner-Preis verliehen wurde. „Bilanzieren heißt ja abschließen. Jedes Buch entsteht aus neuen Fragen, aus neuen Erfahrungen heraus.“
In „Die sieben Sprachen des Schweigens“ hatte Delius drei autobiografische Texte versammelt, deren Leitmotiv das Schweigen ist, das Nicht-sprechen-können. Es geht in dem Buch darum, dass er der „Schweiger vom Dienst“ ist, er bei Autorentreffen immer „der Stillste“ war.
Er erzählt, wie er einmal bei einer Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied er war, in Jena ein „Nichtgespräch“ mit seinem großen Schriftstellerkollegen Imre Kertész führte. Und er erinnert sich auch, wie er kurz vor seinem 65. Geburtstag an einem mysteriösen Virus erkrankte, zwei Wochen lang im Koma liegend künstlich beatmet wurde und im Anschluss daran seine Stimme verlor und damit einige Zeit zum Schweigen verurteilt war.
1954 war es, als alle Gotteszangen von ihm abließen
So schlug Delius mit diesem Buch über das Schweigen einen weiten Bogen in seine Kindheit und Jugend. Denn er wuchs zum einen mit dem Handicap auf, zu stottern. Zum anderen litt er unter einem autoritären, vom Krieg traumatisierten Vater, einem Dorfpfarrer, und konnte sich gegen diesen zunächst nur mit dem eigenen Verstummen zur Wehr setzen.
In seiner Mitte der neunziger Jahre erschienenen und vielleicht berühmtesten Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ machte er sein Stottern als Kind, eine ihn plagende Schuppenflechte und das Leiden an dem Vater zum Thema.
Die Erlösung davon war nur von kurzer Dauer, vor dem Radio, als Deutschland 1954 in Bern die Fußball-WM gewann: „Die Reporterstimme klang im ganzen Körper nach, und der Sieg stieß mich in einen Zustand des Glücks, in dem ich Stottern, Schuppen und Nasenbluten vergaß und das Gewissen und alle Gotteszangen von mir abließen.“
1943 in Rom geboren und dann im nordhessischen Wehrda aufgewachsen, befreite sich Delius von den Nöten und Zwängen seines Provinzdaseins, als er nach West-Berlin ging, um an der FU und der TU Germanistik zu studieren. Hier promovierte er bei Walter Höllerer, dem Gründer des Literarischen Colloquiums, und hier lernte er Klaus Wagenbach kennen, der mit „Kerbholz“ gleich auch einen Gedichtband von ihm veröffentlichte. Als gerade einmal 21-jähriger Jungspund hatte Delius 1964 seinen ersten Auftritt bei der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna, wo er seine Lesung ohne größere Blessuren überstand.
Dokumentarist und typischer 68er
Von diesem Tag an sei sein Weg „hin zu den Büchern“ vorgeschrieben gewesen, erinnerte sich Delius in seinem 2012 erschienenen Buch „Als die Bücher noch geholfen haben“: „Nach der Sigtuna-Erfahrung traute ich mir alles, fast alles zu auf dem großen Arbeitsfeld der Sprachbehandler und -verwandler, in den Werkstätten des literarischen Betriebs, die sich nach und nach öffneten.“
Seine Lehre absolvierte er danach ausgiebig in jenen Literaturwerkstätten: bei den Verlagen Wagenbach und Rotbuch als Lektor, der den Paradigmenwechsel in der Literatur nach dem Ende der Gruppe 47 und unter dem Einfluss der 68er miterlebte und mitbestimmte. Und als Autor, der mit seiner satirischen Festschrift „Unsere Siemens–Welt“ den Siemens-Konzern gegen sich aufbrachte und Prozesse führen musste.
In Folge galt Delius primär als Dokumentarist und typischer 68er, der sich mit den Studentenunruhen, dem Deutschen Herbst und höchst skeptisch auch mit der Wiedervereinigung auseinandersetzte.
Dabei sind ihm trotzdem zum Teil ganz wunderbare Romane und Erzählungen gelungen. So wie „Mogadischu Fensterplatz“, in dem es um die Entführung eines deutschen Passagierfliegers nach Somalia im Herbst 1977 geht. Oder „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“, der komischen, ungemein unterhaltsamen Lebensgeschichte des Rostocker Klempners Paul Gompitz, der vor dem Fall der Mauer mit einem Segelboot über die Ostsee flieht. Oder auch die „Birnen von Ribbeck“, einer Erzählung über Fontanes Havelland-Dorf, die aus nur einem einzigen Satz besteht.
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Delius verfolgte als Autor oftmals einen dokumentarischen Ansatz, als opulenter Stoffauftürmer und praller Geschichtenerzähler verstand er sich nicht. Dafür ließ er sich formal viel einfallen, so wie in der Miniaturensammlung „Die Minute mit Paul McCartney“.
Darin schildert er auf 66 verschiedene Arten eine Begegnung mit dem Beatles-Musiker, der gerade seinen Hund ausführt. Mal als Anagramm, mal als Eilmeldung, mal als Augenzeugenbericht. Und einmal auch als Rezension über sich selbst: „Wieder einmal scheitert Delius. Auch in seinem neuen Roman kann er sich nicht entscheiden zwischen Roman und Dokument, zwischen lyrischer Kurzform und epischer Breite, zwischen Realismus, Autobiografie und literarischem Spiel.“
Doch, Delius war schon auch verletzlich. Es traf ihn, ohne dass er darum Aufhebens gemacht hätte, dass der Georg-Büchner-Preis für ihn nicht überall auf Beifall stieß. Aber er hatte eben auch Humor, der sich wiederum, wenn man ihn traf, oftmals erst beim zweiten Hinhören erschloss.
Und den er zum Beispiel vor zwei Wochen noch bewies, als er in der „FAZ“ seinen Austritt aus dem PEN verkündete, ganz auf der Seite von Deniz Yücel stehend. Nur die Bratwurstbudenbetreiber, die wollte er gegen Yücel doch in Schutz nehmen. Für ihn war der PEN in Gotha „ein Klub von Kleingeistern, die wenig oder nichts zum Kauen zu bieten haben.“
Eins seiner schönsten Bücher: “Bildnis der Mutter als junge Frau”
Immer „der Stillste“ zu sein, daraus hat Delius später eine Tugend gemacht – eine Wohltat im narzisstischen, lautsprecherischen Getriebe der Literatur! – und diese umgeleitet in seine Bücher mit ihrer ebenfalls leisen, aber immer der Sprache verpflichteten Genauigkeit.
Ein Beispiel dafür ist auch das abermals autobiografisch grundierte „Bildnis der Mutter als junge Frau“, das vielleicht eines seiner schönsten und besten Bücher ist. Darin wird der Spaziergang einer jungen, hochschwangeren Frau an einem sonnigen Januartag des Jahres 1943 beschrieben, mehr noch aber ihre Gedanken, Sehnsüchte, Erinnerungen und Zweifel.
Wieder ist es nur ein einziger Satz, aus dem diese Erzählung besteht, dieses Mal auf 120 Seiten. Und wieder hat man nie den Eindruck, jetzt brauche es aber mal einen Punkt, so wundervoll schwingt dieser Satz in all seinen Verästelungen, so klar und elegant führt Delius hier durch Rom, so präzise imaginiert er den Bewusstseinsstrom seiner Mutter.
Zuletzt wechselten sich bei seinen Veröffentlichungen Licht und Schatten. Da gelang ihm tatsächlich vor allem das, was auf seinem Leben beruhte, wie das 2018 veröffentlichte Buch „Die Zukunft der Schönheit“ oder eben „Die sieben Jahre des Schweigens“. Aber seine Devise lautete bis zum Schluss: „Man muss scheitern können. Man muss Risiken eingehen, sonst hat das Schreiben keinen Sinn.“ Am Montag ist Friedrich Christian Delius in Berlin gestorben. Er wurde 79 Jahre alt.