Kampf den Männerbünden!

Weswegen verliert die unbesiegbare Kriegerin Brunhild im Nibelungenlied in der zweiten Hochzeitsnacht all ihre Kraft? Was steckt hinter dem geheimen Bund von König Gunther, Siegfried und Hagen? Was das eigentlich Ungesagte in dieser seit über 1000 Jahren überlieferten Erzählung? Und was hat das alles mit dem Satz zu tun: „Frauen brauchen nichts außer einen guten Schluckreflex“?

Das provokative Zitat hat Uta Hertneck ins Programmheft gesetzt – ein Kommentar zu einer Angestellten, gegriffen aus der aktuellen MeToo-Debatte. Die Autorin hat es sich mit ihrer „Brunhild“-Adaption nicht einfach gemacht. Sie erzählt uns die Geschichte der Nibelungen aus der Sicht einer Betroffenen. Bereits nach wenigen Minuten der zweistündigen Aufführung mit Tanz- und Musiktheater-Elementen wird klar: Wagner-Fans müssen sich hier umstellen. (Berlin-Premiere am 2. Juni im Theater im Delphi, Weißensee, Gustav-Adolf-Str. 2, 20 Uhr, dann noch bis 5. Juni).

Da geht König Gunther (Jacob Keller) gar nicht so königlich umher und richtet wie ein Talkmaster, in einen Apfel beißend, Fragen ans Theater-Publikum und seine Erwartungshaltung. Da kommt Brunhild (Anthea Heyner) mit starrem Blick in die Ferne gerichtet, leicht somnambul wirkend, auf die Bühne und vollführt wortlos Tanz- und asiatische Kampfschritte.

Wer hat hier die Deutungshoheit? Wir müssen noch mal kramen bei dem, was man vom Brunhild-Stoff weiß, der mythologischen Figur aus dem nordischen Sagenkreis.

Brunhild trägt im Nibelungenlied wesentlich zur Entwicklung der Handlung bis zu Siegfrieds Tod bei, verschwindet dann aber fast gänzlich aus dem Epos. Erst in der Klage, eine Art Fortsetzung des Nibelungenliedes, tritt sie wieder auf, als ihr der Tod Gunthers gemeldet wird. Ihre Figur wird immer mehr in einen höfischen Kontext gedrängt. Es ist so gar nichts mehr von der Wildheit einer kriegerischen Königin zu spüren.

Die „Frau als immaterielles Konzept, für das es ebenso viele Definitionen wie Kulturen auf Erden gibt“

Genau dieser Zähmung setzt die Hertneck-Inszenierung eine Überschreibung entgegen, eine seit Dürrenmatt eingeführte Praxis der Theaterarbeit. Das Credo: Die großen und klassischen Stoffe, die wir so lieben, weil wie mit ihnen gewachsen sind, sagen uns bei näherer Betrachtung nichts. Zumindest nichts über heute.

Hertnecks „Brunhild“ wechselt von der althergebrachten männlichen in die weibliche Perspektive und in unterschiedliche Zeit‑, Stil- und Erzählebenen, die vielen alten Texte im Blick, die sich mit dem Nibelungen-Mythos auseinandergesetzt haben.

Je länger sich Brunhild, Gunther, Hagen (Katrin Schönermark), Siegfried (Falk Pognan), Kriemhild (Renée Stulz) und eine Psychologin (Anja Kunzmann) im Bühnen-Rechteck umkreisen, wie im Boxring, ihre Beziehung austarieren, desto mehr kommt Brunhild zu sich – nach einer überwältigenden Hochzeitsnacht mit König Gunther beziehungsweise Siegfried (die sie kurz darauf aus ihrem Gedächtnis gestrichen hat) und “posttraumatischer Belastungsstörung“. Sie findet zu einer Art Selbsterkenntnis, besser Selbstermächtigung. Kampf den Männerbünden!

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Die „Frau als immaterielles Konzept, für das es ebenso viele Definitionen wie Kulturen auf Erden gibt, eine erfundene Kategorie“, heißt es einmal. Das zeigt, dass es sich hier nicht einfach um eine weibliche Neuschreibung des Brunhild-Stoffes handelt, sondern um eine Infragestellung der Geschlechterkonzepte generell.

Genderdiskurse, Feministinnen-Zitate, oszillierend zwischen Tanz, Musik und lyrischer Performancekunst, zwischendrin wird mal altisländisch gesprochen – Uta Hertnecks „Brunhild“, dramaturgisch gestützt von Marcus Hertneck, ist über 120 Minuten nicht immer leicht verdaulich. Ein diskursiver Theaterabend mit, ja, Zickenkriegen, Männergebalze und Erkenntnisgewinn ist die Produktion der Theatergruppe Lyriden*18 allemal, die im Herbst 2021 in Potsdam Premiere hatte und nun nach Berlin kommt.

„Sie glauben, dass 800 Jahre lang, eine falsche Geschichte erzählt wurde?“ fragt Gunther das Publikum. Ja, vielleicht, mit dieser Inszenierung noch ein bisschen mehr. Vielleicht ist doch was faul am Narrativ der treuen Männer und der streitsüchtigen Frauen, dem Konzept der überwältigten Frau und ihrer verletzten Eitelkeit, als National-Epos verbrämt. Und die Bayreuther Festspiele gibt’s ja auch noch.