Belgiens EM-Aus ist weit mehr als eine Niederlage

Roberto Martinez verfügt offenbar über die bemerkenswerte Fähigkeit, sich ein einen Zustand vollkommener Bewegungslosigkeit zu versetzen. Das Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft zwischen Belgien und Italien war gerade beendet, auf dem Platz und den Rängen liefen die anschließenden Feierlichkeiten der italienischen Sieger, da stand Martinez, der spanische Nationaltrainer der Belgier, immer noch in seiner Coachingzone.

Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Oberkörper leicht nach hinten gebeugt und rührte sich keinen Zentimeter von seinem Fleck. Um ihn herum, in einigem Abstand, verharrten seine Mitarbeiter in der grauen Funktionskleidung.

Ein paar Minuten tat sich nichts, dann kam wieder Leben in Martinez‘ reglosen Körper. Der Spanier drehte sich nach rechts und verschwand wortlos im Keller der Münchner Arena.

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Auch während des Spiels schien es um die geistige Beweglichkeit des Spaniers nicht allzu gut bestellt gewesen zu sein. Die angezeigte Mindestnachspielzeit von fünf Minuten war bereits abgelaufen, als Martinez vor seiner Bank ein kurzes Gespräch mit dem jungen Mann führte, der oberkörperfrei neben ihm stand. Christian Benteke nestelte an einem fabrikneuen roten Trikot herum. Der Stürmer, ein wuchtiger Brecher, war ein bisschen hektisch, weil er für die letzten Alles-oder-nichts-Momente noch ins Spiel kommen sollte. Der Ball rollte ins Aus. Martinez zeigte den Wechsel an. Der Schiedsrichter pfiff ab.

Am Ende doch nur eine bronzene Generation

Vermutlich beendete dieser Pfiff mehr als nur ein berauschendes Viertelfinale, in dem der Turnierfavorit Italien den Turnierfavoriten Belgien mit 2:1 (2:1) besiegt hatte.
Roberto Martinez, 47 Jahre alt und seit 2016 Nationaltrainer der Belgier, wurde später gefragt, wie es denn nun für ihn weitergehe. „Das ist ein Moment, der es sehr schwer macht, über etwas anderes zu reden als diese Niederlage“, antwortete er. „Ich möchte nichts aus der Emotion heraus sagen.“

Aber diese Niederlage war natürlich mehr als eine Niederlage. Sie war womöglich das Ende einer Ära, die streng genommen nie eine wurde. Das Ende der vermutlich stärksten Nationalmannschaft, die Belgien je hatte, mit so viel Talent, wie sie in dieser Zeit wenige andere Nationen hatten. Das Ende einer sogenannten goldenen Generation, die letztlich doch nur eine bronzene war. „Letzter Halt München“, schrieb Belgiens größte Tageszeitung „Het Laatste Nieuws“.

„Knapp vorbei: Das ist ein bisschen die Geschichte heute“, sagte Thibaut Courtois, der Torhüter der Belgier, nach der Niederlage gegen die Italiener. Seine Mannschaft hatte in der zweiten Hälfte gute Chancen auf den Ausgleich, ließ sie aber allesamt ungenutzt.
Knapp vorbei: Das ist auch ein bisschen die Geschichte dieser Generation, die 2014 aufgebrochen ist, die Fußballwelt zu verzücken und zu erobern.

Die Mannschaft ist über Jahre in großen Teilen unverändert geblieben.Foto: dpa/ Federico Gambarini

Belgien ist die einzige europäische Mannschaft, die bei den jüngsten vier WM- und EM-Endrunden immer mindestens das Viertelfinale erreicht hat. Sie kam aber auch nur einmal darüber hinaus. Das war bei der Weltmeisterschaft vor drei Jahren, als Belgien im Halbfinale am späteren Weltmeister Frankreich scheiterte und am Ende Platz drei heraussprang. Gemessen am legendären Ruf dieser Generation fiel der tatsächliche Ertrag eher bescheiden aus.

„Die Roten Teufel waren in München nicht frisch“

Damals in Russland fühlten sich die Belgier noch um den Finaleinzug betrogen, weil sie gegen Frankreich die fußballerisch bessere und aktivere Mannschaft waren, weil sie allein sich um die Gestaltung des Spiels bemühten, während die Franzosen allein auf Konter lauerten und am Ende damit erfolgreich waren. Inzwischen sind die Belgier selbst ein bisschen französischer geworden.

Am Freitag gegen Italien hatten sie weniger Ballbesitz als ihr Gegner – und das obwohl sie in zwei Dritteln des Spiels einem Rückstand hinterherlaufen mussten. „Das war unser schlechtestes Spiel bei der EM“, sagte Thomas Meunier, der Rechtsverteidiger der Belgier, der bei Borussia Dortmund unter Vertrag steht.

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Der Glanz des belgischen Spiels ist etwas ermattet. Es gibt immer noch flirrende Momente, vor allem dann, wenn Kevin de Bruyne den Ball hat. Es gibt noch diese unwiderstehliche Angriffswucht, wenn Romelu Lukaku sich in Gang setzt und dem gegnerischen Tor zustrebt. Aber es sind inzwischen eben nur noch Momente. „Die Roten Teufel waren in München nicht frisch, nicht scharf, nicht verspielt genug“, schrieb „Het Laatste Nieuws“.

In der Vorrunde der EM 2016 sind Belgien und Italien zuletzt bei einem großen Turnier aufeinandergetroffen. Aus dem italienischen Team von damals stehen bei der laufenden Europameisterschaft nur noch drei Spieler im Kader; aus dem belgischen Team sind es zehn.

Erfahrung ist wichtig, aber kein Selbstläufer

Die Mannschaft ist über Jahre in großen Teilen unverändert geblieben: mit Courtois, 29, im Tor, mit der Abwehrkette aus Toby Alderweireld, 32, Thomas Vermaelen, 35, und Jan Vertonghen, 34, mit de Bruyne, 30, Axel Witsel, 32, und Eden Hazard, 30, im Mittelfeld, und Lukaku, 29, im Sturm. Dieses Team ist gemeinsam alt geworden.

Gegen Italien standen bei den Belgiern fünf Spieler mit mehr als 100 Länderspielen auf dem Platz. Mit 29,2 Jahren im Schnitt stellt Belgien das älteste Team unter allen 24 EM-Teilnehmern. Sogar die griechische Altherrentruppe, mit der Otto Rehhagel sich 2004 den EM-Titel ermauert hat, war mit einem Durchschnittsalter von 28,4 Jahren geringfügig jünger.

Die Geschichte zeigt, dass gerade bei einem großen Turnier Erfahrung ein wichtiger Faktor sein kann. Aber ein Selbstläufer ist das eben nicht. Italien hatte am Freitagabend mehr zu bieten.

„Das Ausscheiden kommt nicht vollkommen überraschend, oder?“, fragte „Het Laatste Nieuws. Nein, kam es nicht. Die Selbstverständlichkeit, die das Spiel der belgischen Mannschaft einmal ausgezeichnet hat, war bei der EM nur noch punktuell zu sehen. „Ich bin nicht enttäuscht, was die Haltung meiner Spieler angeht. Sie waren wirklich toll“, sagte Nationaltrainer Roberto Martinez. „Ich könnte nicht stolzer sein. Das war fantastisch.“ Es klang mehr wie ein Nachruf auf die vergangenen Jahre als wie ein Kommentar zum verlorenen Viertelfinale.