Die Politik der Seuche: Andreas Bernard folgt den Erzählmustern von Epidemien
Im Mai 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken als ausgerottet, Erfolg einer bisher nicht dagewesenen gesundheitspolitischen Verfolgungs- und Erfassungsgeschichte. Mit dem „letzten Patienten“, einem Koch aus Somalia, endete die Spur der verheerenden Seuche. Vier Jahre später treibt eine neue, mysteriöse Infektionskrankheit die Menschheit um, Aids, die offiziell mit „Patient Null“, Gaëtan Dugas, die Bühne betritt, und die aufgrund ihrer zunächst „devianten“ sexuellen Übertragungswege vielfältigen Stoff für kollektive Imaginationen liefert.
Die beiden Ereignisse bestimmt der in Lüneburg lehrende Kulturwissenschaftler Andreas Bernard zur Ouvertüre für seine Studie „zur Erzählbarkeit von Epidemien seit dem 18. Jahrhundert“. Schon im Titel „Die Kette der Infektionen“ spiegelt sich ein doppeltes Interesse, die vordergründige Geschichte der Infektionen und ihre poetologische Ausdeutung, die, so Bernard, auch die Bekämpfbarkeit von Epidemien bestimmt. Wer sich allerdings eine Rekonstruktion der Corona-Pandemie erhofft, wird enttäuscht werden, denn diese vorerst letzte global wütende Krankheit spielt in den Aufritten der Seuchen nur eine marginale Rolle. Ein solcher „Epochenbruch“, so die Begründung, könne heute „noch nicht resümierend erzählt werden“.
In den unterschiedlichen Erzählweisen über Pocken und Aids legt Bernard zunächst zwei gegenläufige Motivrichtungen frei: Ging es bei der Ausrottung der Pocke um die demografische Einkreisung und Eindämmung, waren die Phantasien in der Frühzeit von Aids geprägt von der bedrohlichen Entgrenzung der Krankheit, als klar wurde, dass die „immunologische Zeitbombe“ nicht nur für „Risikogruppen“ tickte. „Die Angst war schneller als die Krankheit.“
In Dugas fanden die Medien die illustre Täter-Figur, in der sich Schönheit, Promiskuität und Tod vereinte. Das Stigma wurde zum sozialen Kennzeichen der Krankheit, nicht nur der Körper ist infektiös, sondern auch die Zeichen.
Der Kampf gegen die bis ins frühe 20. Jahrhundert grassierenden Ansteckungskrankheiten – zunächst die Pocken, dann Cholera, Tuberkulose, Influenza und Diphterie –, den der Autor in den folgenden Kapiteln verfolgt, war in gewisser Weise ein Glaubenskampf, aus dem eine neue experimentelle Disziplin, die Bakteriologie, hervorging. Während die Anhänger der Miasmen-Theorie davon ausgingen, dass geografische Umweltbedingungen – durch die Luft verbreitete, unsichtbare „Miasmen“ – Epidemien auslösen, waren die Kontagionisten davon überzeugt, dass Krankheiten von Mensch zu Mensch übertragen werden.
Im gemeinsamen Willen, der Erreger habhaft zu werden, schwelte dieser Streit mit unterschiedlicher Gewichtung bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Während um die Miasmen ganze „Krankheitsreisebücher“ erzählt wurden, entzogen sich die im Labor sukzessive experimentell nachgewiesenen abstrakten „Mikroben“ zunächst der Erzählbarkeit.
Vor allem aber generierten beide Erzählformen unterschiedliche Maßnahmen: im ersten Fall die gesundheits- und sozialpolitische Prophylaxe – etwa Trockenlegung von Sümpfen, Verbesserung der Wohnverhältnisse und der Infrastruktur wie Wasserleitungen im Falle von Cholera – oder es ging um die detektivische Nachverfolgung des Keims über die Ketten der Überträger hinweg. Was sich umso schwieriger erwies, als klar wurde, dass auch gesunde Menschen infektiös sein können wie die erste „Superspreaderin“ Mary Mallon, die ab 1889 als gesunde Typhusbazillenträgerin in New York zur „Todesbotin“ wurde. Ein Fall rigoroser seuchenpolitischer Ausgrenzung.
Bernard zeichnet nicht nur die rastlose und von Umwegen begleitete Jagd nach den Erregern nach, die mit Namen wie Louis Pasteur, Robert Koch oder Emil von Behring verbunden sind, sondern auch die Rolle der Kommunikationsmedien. Eine wichtige Rolle spielt der Brief, der nicht nur Daten, sondern auch Keime transportierte, und erst mit der Erfindung der Telegrafie, das heißt mit der Entkoppelung von Daten- und Güterverkehr, seine epidemiologische Bedeutung verlor. Geblieben ist die Erfahrung, dass „immun ist, wer nicht kommuniziert.“
Im letzten Teil fahndet der Autor nach den Narrativen der Immunität, beginnend mit den frühen, teilweise an Außenseitern praktizierten Impfexperimenten bis hin zu den modernen Experimentalanordnungen im Labor. Dabei rückt er den Epidemiologen ebenbrütig an die Seite der großstädtischen Figur des Flaneurs oder Detektivs. Bernards Parallele zwischen der modernen Krise des Erzählens und der vergeblichen Rekonstruierbarkeit von Infektionsketten in den wachsenden Großstädten gehört zu den interdisziplinären Höhepunkten des Buches.
Auch wenn der Autor am Ende nur einen Ausblick auf die Corona-Pandemie gibt, wirft sein wissenschaftshistorisch informierter Blick ein erhellendes Licht auf die narrativen Muster der Pandemie, die von Verschwörung über ihre apodiktische infektionspolitische Bewirtschaftung bis hin zu den nachträglichen Eingeständnissen des Nichtwissens reichen. Dass sich sein Buch selbst wie ein Detektivroman liest, garantiert ihm trotz gelegentlich sperriger Materie eine aufgeschlossene Leserschaft.