US-Independentkino im Berliner Arsenal: Weibliche Perspektiven auf Amerika

Ein Blick sagt mehr als tausend Worte. Aber das Reden ist ohnehin mehr die Rolle von Sams Vater Chris und dessen Jugendfreund, dem frisch geschiedenen Matt, die die 17-Jährige auf einem Campingtrip in die Catskills von Upstate New York begleitet. Eigentlich hätte noch Matts Teenager-Sohn mitkommen sollen, der aber hat (wohlweislich?) kurzfristig abgesagt.

Jetzt muss Sam das Gequengel und Genecke der beiden Männer ertragen, die sich wieder benehmen wie zu ihrer Schulzeit. Die Stille der Wälder wäre ihnen unerträglich. Aber vor allem Sams Vater (James Le Gros) geht es auch darum, eine subtile Überlegenheitsgeste zum Ausdruck zu bringen. Teenagerkram eigentlich, über dem Sam souverän steht.

Die Newcomerin Lily Collias ist die stille Kraft in India Donaldsons Regiedebüt „A Good One“, das sich mit seiner jungen Protagonistin verbündet. Ihr Film, der am Donnerstag die 15. Ausgabe vom Festival des amerikanischen Indiefilms „Unknown Pleasures“ eröffnet, nimmt ganz die Perspektive Sams ein. Er registriert die unangenehmen Momente, wenn das Mädchen im Motel die Nacht vor dem Ausflug wie selbstverständlich auf dem Boden des Motelzimmers verbringen muss.

Oder ihr genervtes Augenrollen, wenn die Männer wieder in die Dynamik ihrer Jugend zurückfallen. Sam ist zweifellos die Erwachsene der drei. Sie kontert die Erklärwut Matts (Danny McCarthy) mit schnippischen Bemerkungen – und baut ihr Zelt, im Gegensatz zum Freund ihres Vaters, auch ohne Hilfe auf.

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Mit ihrem Langfilmdebüt reiht sich India Donaldson, Tochter des Hollywood-Routiniers Roger Donaldson, in eine Ahnengalerie von Regisseurinnen ein, die in den vergangenen zwei Dekaden dem amerikanischen Independentkino ihrem Stempel aufgedrückt haben. Und „Good One“ legt nahe, dass sie in die Fußstapfen von Kelly Reichardt („Wendy und Lucy“) und Debra Granik („Winter’s Bone“) treten könnte – zwei Filmemacherinnen, deren Sensibilität auch Donaldson auszeichnet.

Eindrucksvolle Debüts von Filmemacherinnen

Ihr Porträt einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg finden muss (vielleicht auch, um nicht als „die Gute“ ständig alle Erwartungen zu erfüllen) ist klug genug, sich vor allem aufs Beobachten zu beschränken. Und trotzdem bleibt Sam eine schmerzhafte Enttäuschung nicht erspart, die ihr die unvermeidliche Abnabelung vom Vater erleichtert. „Können wir nicht einfach einen schönen Tag haben?“, ist sein Satz, der noch lange in ihrem Leben nachhallen wird.

Dakota (Kota Joha) streift in „Tendaberry“ von Haley Elizabeth Anderson haltlos durch Brooklyn.

© Arsenal – Institut für Film und Videokunst

Die diesjährige Ausgabe von „Unknown Pleasures“ hat noch weitere eindrucksvolle Spielfilmdebüts von Filmemacherinnen im Programm. Es war ein Jahr voller Entdeckungen, angefangen bei Tina Sattlers Whistleblower-Kammerspiel „Reality“ bis zur Cringe-Komödie „Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ von Joanna Arnow.

Mehr im Modus eines Bewusstseinsstroms bewegt sich Haley Elizabeth Andersons „Tendaberry“ mit seiner jungen Protagonistin Dakota (Kota Joha) durch ein Brooklyn, das im Begriff ist zu verschwinden. Echte Videotagebücher des queeren Aktivisten Nelson Sullivan vermischen sich mit flüchtigen Impressionen vom Treiben um den Jahrmarkt in Coney Island und von nächtlichen Streifzügen durch Clubs.

Die Pandemie ist gerade erst vorbei, und Dakota, die sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, spürt eine diffuse Einsamkeit. Und das nicht nur, weil sie auf Nachricht von ihrem Freund Juri (Yuri Pleskun) wartet, der nach dem Angriff Russlands in der Ukraine festsitzt. Andersons assoziative Bildmontage entwickelt eine traumhafte Logik, die aber fest in der sozialen Realität ihrer Figur verankert ist.

Ein faszinierender Hybrid ist „Invention“ von Courtney Stephens. In knapp 70 Minuten verarbeitet die Regisseurin gemeinsam mit ihrer Hauptdarstellerin Callie Hernandez, die in Locarno ausgezeichnet wurde, den Tod ihrer beiden Väter. Ausgangspunkt ist der Nachlass von Hernandez’ Vater, einem Verschwörungstheorien nicht abgeneigten Wunderheiler, der zudem obskure Heilungsmaschinen sammelte.

Die schwierige Hinterlassenschaft ist – für die Regisseurin, die Schauspielerin und die Protagonistin – Auslöser einer stellenweise ziemlich komischen Meditation über Trauer und Verlust. Ein Gefühlszustand, der dem amerikanischen Wahljahr 2024 durchaus angemessen ist.