Warum der belgische Fußball so stark ist
Es war nicht so, dass sie Kevin De Bruyne wieder nach Hause schicken wollten. Aber die Situation war schwierig. „Wir fragten uns, was wir mit ihm machen sollen“, erzählt Roland Breugelmans, der die Nachwuchsakademie des KRC Genk schon Mitte der Nullerjahre leitete und es auch heute noch tut. 15 Jahre alt war De Bruyne damals und ein Strich in der Landschaft. Dass er etwas hatte, war unübersehbar. Goeie voetjes nennt man in Belgien Kicker wie ihn – gute Füße.
De Bruyne war außergewöhnlich schnell und konnte im Spiel Situationen erkennen, die andere Spieler nicht wahrnahmen. „Aber er war weder unser Star noch hat jemand vorausgesagt, dass er mal ein Weltklassespieler würde“, sagt Breugelmans. Das größte Problem um die Jahre 2005 und 2006 war, dass der heutige Profi von Manchester City oft frustriert war. „Sein Kopf wurde rot, wenn etwas nicht funktionierte“, sagt Breugelmans und lacht.
Das passierte häufiger, wenn De Bruyne den idealen Pass dorthin spielte, wohin nur leider kein Mitspieler lief. Oder wenn ihn Gegenspieler, die größer und stärker waren als er, im Zweikampf einfach abkochten. In der Rückschau kann man sagen, dass ein großer Fußballspieler im Körper eines Kindes gefangen war.
Breugelmans geht auf die Sechzig zu und arbeitet seit inzwischen 32 Jahren für den Klub im Dreiländereck von Belgien, Holland und Deutschland. Als sie sich Sorgen um De Bruyne machten, fassten sie einen einfachen Beschluss: „Wir haben ihm Zeit gegeben und haben uns Zeit mit ihm genommen.“
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Breugelmans erinnert eher an einen Klavierlehrer als einen Fußballmanager, und man könnte hier die rührende Geschichte eines Mannes vermuten, der in großer Gelassenheit dafür sorgte, dass eine Weltkarriere nicht schon in der Jugend verhindert wurde. Denn noch heute scheitern immer wieder außergewöhnliche Talente im Fußball viel zu früh, weil sie zu schmächtig sind, ihren Frust darüber nicht unter Kontrolle bekommen und niemand genug Geduld für sie aufbringt. Doch in diesem Fall ist das nur die halbe Wahrheit, denn nicht nur in Genk, sondern im gesamten belgischen Nachwuchsfußball ist Geduld ein Teil des Systems.
Seit September 2018 steht die Nationalmannschaft des Landes an der Spitze der Weltrangliste, bei der WM in Russland wurde sie Dritter. Kevin De Bruyne ist genauso ein Weltstar wie Torjäger Romelu Lukaku von Inter Mailand oder Torwart Thibaut Courtois bei Real Madrid.
Überhaupt sind fast alle Nationalspieler Spitzenkräfte in einer der fünf großen Ligen. Das ist deshalb so erstaunlich, weil Belgien nur gut elf Millionen Einwohner hat und die belgische Liga so klein ist, dass sie nur einen Klub direkt in die Champions League entsenden darf. Der letzte europäische Titel ging 1988 nach Belgien, als der KV Mechelen den Europapokal der Pokalsieger gewann.
In Belgien gibt es weniger Kicker als etwa im Großraum Paris
Um zu erklären, warum es trotzdem so viele Spitzenspieler im Land gibt, zaubert Kris Van Der Haegen ein paar Slides auf den Bildschirm. Er leitet die Trainerausbildung beim belgischen Fußballverband und ist dadurch auch für die Nachwuchsförderung entscheidend. Van Der Haegen spricht enthusiastisch darüber und liebt es, Bilder für das zu finden, was sie in Belgien machen.
Auf einem sind eine Handvoll Bananen in unterschiedlichem Reifezustand zu sehen, von einer unreifen grünen bis zu einer reifen essbaren. „Einige Trainer wollen nur reife Bananen“, sagt er. Gemeint sind Spieler, die sofort liefern können. Weil es in Belgien aber weniger Kicker als etwa im Großraum Paris gibt, müssen sie sich auch um die kümmern, die Potential haben, aber körperlich noch nicht richtig entwickelt sind. Also die grünen Bananen.
Für solche Spieler in der U15, U16 und U17 hat der Verband 2008 eine Zukunftsnationalmannschaft eingerichtet, in der sie zu eigenen Lehrgängen zusammenkommen. Van Der Haegen hat zwei bezeichnende Fotos aus dem ersten Jahr mit den Kickern des Jahrgangs 1993. Die Spieler des Zukunftsteams wirken neben jenen aus der regulären Mannschaft wie deren kleine Brüder.
In der aktuellen Nationalmannschaft gibt es zwei Spieler, die diesen Weg der Spätentwickler gegangen sind: Yannick Carrasco, der inzwischen bei Atletico Madrid spielt, und Timothy Castagne von Leicester City. Insgesamt fünf Spieler fallen für Van Der Haegen in die Kategorie grüne Bananen.
Auch Kevin De Bruyne, der aber schon zu alt war, als das Zukunftsteam gegründet wurde. Doch wie erkennt man ein Talent, das spät aufblüht? „Als Scout muss man sehen, was diese Jungs abseits des Balles machen, denn sie spielen eher nicht fünf Gegner aus“, sagt Van Der Haegen. Um das Potential besser zu erkennen, bietet der Verband seit zehn Jahren für Nachwuchsscouts einen speziellen Kurs an. „Wir geben ihnen eine Brille, um klarer zu sehen“, sagt Van Der Haegen.
An einem Nachmittag Ende April trainieren auf den Plätzen des KRC Genk einige Jugendmannschaften in der Nachbarschaft einer begrünten Halde, früher war die Gegend ein großes Steinkohlerevier. Von der ersten Etage des Funktionsgebäudes aus kann man zudem das Stadion sehen, die jungen Kicker sollen ihr großes Ziel immer im Auge haben.
Aus der Provinz Limburg in die große Fußballwelt – so wie De Bruyne und Courtois
Auch dass die Profis auf diesem Gelände trainieren, soll die Youngster inspirieren, und die Ausgestaltung der Kantine erst recht. Die ganze Stirnwand wird von einer Fotocollage eingenommen, auf der jene Spieler zu sehen sind, die es aus der Provinz Limburg in die große Fußballwelt geschafft haben, allen voran natürlich De Bruyne und Courtois.
Koen Daerden, 38 Jahre alt, ist Technischer Direktor der Akademie und hat früher selber als Profi in Genk gespielt. 2002 wurde er zum besten Rookie der ersten belgischen Liga gewählt. Das war zur gleichen Zeit, als der Grundstein für die heutige Akademie gelegt wurde. Wenn man ihn fragt, was sich in der Nachwuchsausbildung im Vergleich zu seiner Zeit geändert hat, bläst Daerden zunächst einmal ratlos die Backen auf. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, eigentlich alles“, sagt er.
Als Daerden vor sieben Jahren, nach dem Ende seiner Spielerkarriere, nach Genk zurückkehrte, war er fast etwas geschockt darüber, als er den Kindern und Jugendlichen beim Fußballspielen zuschaute. Sie waren so viel besser als er im gleichen Alter. „Schon die Elfjährigen waren total selbstbewusst am Ball. Der Umgang bereitete ihnen keine Mühe, der Ball und sie bildeten eine Einheit.“ Seither sind die Youngster sogar noch besser geworden.
Dass das so ist, hat mit einem sportlichen Desaster zu tun. Im Jahr 2000 war Belgien gemeinsam mit den Niederlanden Gastgeber der Europameisterschaft, und die Roten Teufel schieden schon in der Vorrunde aus. Weil in der Analyse der peinlichen Pleite klar wurde, dass die belgischen Kicker international nicht mehr mithalten konnten, wurde die Nachwuchsausbildung auf den Kopf gestellt.
Männer wie Van Der Haegen oder Breugelmans waren damals dabei, als ein radikaler Gedanke entstand: Nicht die Mannschaft sollte fortan im Mittelpunkt stehen, sondern der einzelne Spieler. „Fußball ist ein kollektiver Sport, aber er wird von Individuen gespielt“, sagt Van Der Haegen. Deshalb steht im Mittelpunkt der Ausbildung seither das Dribbling.
Vor allem die Kleinen sollen sich den Umgang mit dem Ball spielerisch aneignen. „Bevor sie das Passen lernen, sollen sie erst dribbeln können.“ Und das mit dem rechten wie dem linken Fuß, keine Übung wird nur mit einem Fuß gemacht. Van Der Haegen nennt das „Straßenfußball 2.0“, und im Laufe der Jahre hat der belgische Verband daraus weitere Schlüsse gezogen.
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Bei den Kleinsten in der U6 bilden inzwischen nur zwei Spieler eine Mannschaft, in der U7 drei, ab der U8 sind es fünf, ab der U10 acht und erst ab der U14 stehen elf Spieler auf dem Platz. Und selbst hier denken sie darüber nach, das erst ein Jahr später passieren zu lassen. Kleinere Mannschaften auf kleineren Spielfeldern führen automatisch dazu, dass die Spieler öfter am Ball sind.
Es ist interessant, den belgischen Weg mit dem in Deutschland zu vergleichen. Schließlich sorgte auch hierzulande die Pleite bei eben jener Euro 2000 für einen kompletten Neustart der Talentförderung mit verpflichtenden Nachwuchsleistungszentren, die letztlich Grundlage für den Gewinn der WM 2014 waren. In Belgien hingegen stellte sich der Effekt erst mit etwas Verzögerung ein. Das erklärt sich dadurch, dass zunächst nur der RSC Anderlecht und KRC Genk professionell geführte Leistungszentren hatten. Inzwischen sind noch der FC Brügge und Standard Lüttich dazugekommen, während die anderen Klubs meist nur nebenberufliche Jugendtrainer haben.
Aber die Dinge sind in Bewegung, und dafür hat vor allem der KRC Genk gesorgt. 2010 gewann er die belgische Meisterschaft mit fünf Spielern aus dem eigenen Nachwuchs, darunter dem 17 Jahre alten De Bruyne und dem 18 Jahre alten Torwart Thibaut Courtois. Reihenweise wurden hier weitere Spitzenspieler ausgebildet und transferiert, ob die beiden grünen Bananen Carrasco und Castagne oder Dennis Praet, der inzwischen ebenfalls bei Leicester City spielt, Christian Benteke (Crystal Palace), Leandro Trossard (Brighton), Divock Origi (FC Liverpool) oder Wolfsburgs Torwart Coen Casteels.
Für einen Klub aus einem Städtchen so groß wie Fulda ist das spektakulär. „Wir bekommen sogar Anrufe von Klubs aus Brasilien und China, die uns fragen: Was ist das Geheimnis eurer Arbeit?“, erzählt Daerden. „Dann schauen wir uns an und fragen uns: Was ist denn unser Geheimnis?“
Letztlich setzt sich das Geheimnis aus vielen kleinen Geheimnissen zusammen. Eines ist sicherlich die konsequente Fokussierung auf individuelle Fertigkeiten. „Wir glauben nicht an Gewicht und Körpergröße, sondern an gute Technik, Bewegungen und kognitive Fähigkeiten“, sagt Daerden. Das hat auch dazu geführt, dass es in Belgien inzwischen viel bessere Stürmer gibt als hierzulande.
Die institutionalisierte Geduld ist ein anderes Geheimnis. So wird bis zur U16 jedem Spieler garantiert, in 70 Prozent der Spielzeit auf dem Platz zu stehen, selbst wenn das manchmal bedeutet, dass man halt auch Spiele verliert. So handhaben sie das jedenfalls beim KRC Genk. Das ist allerdings auch deshalb einfacher, weil aus den geschlossenen Nachwuchsligen keine Mannschaft absteigen kann.
Gerade hat Genk den belgischen Pokal gewonnen, mit dem 24 Jahre alten Mannschaftskapitän Bryan Heynen und dem 19 Jahre alten Torwart Maarten Vandevoordt standen im Finale zwei Spieler auf dem Platz, die schon seit der U7 bzw. U8 beim Klub sind. Keeper Vandevoordt gilt als der neue Courtois. Da der KRC Genk auch davon lebt, die eigenen Talente in größere Ligen zu verkaufen, bekommt die Nachwuchsakademie höchste Aufmerksamkeit.
De Bruyne brachte schon als 20-Jähriger viel Erfahrung mit
Der Sportdirektor des Klubs war früher Jugendtrainer, Nachwuchs- und Profiabteilung sind eng miteinander verzahnt. Stets mindestens acht Nachwuchsspieler sollen im Kader der ersten Mannschaft stehen, es waren auch schon zehn oder elf. Und weil die belgische Liga im internationalen Vergleich nicht so stark ist, werden Talente hier früher eingesetzt.
Als Kevin De Bruyne neulich gefragt wurde, was ihm bei seiner Karriere besonders geholfen hätte, sagte er, dass er schon gut hundert Pflichtspiele hinter sich hatte, als er mit zwanzig Jahren zum FC Chelsea wechselte.
Einmal im Monat treffen sich alle Nachwuchsleiter der belgischen Klubs mit Kris Van Der Haegen in Brüssel. „Wir sind als Land zu klein, um nicht zusammenzuarbeiten“, sagt er. Auf kurzem Dienstweg wird regelmäßig nachgebessert, die Dinge sind ständig im Fluss. Neulich etwa ist ihnen klar geworden, dass es in Belgien zwar phantastische Torhüter gibt, steinsolide Innenverteidiger, kreative Mittelfeldspieler und brutal gefährliche Stürmer, an Außenbahnspielern aber mangelt es. „Wir haben zu sehr auf Kreativität gesetzt“, sagt Van Der Haegen. Sonderlich besorgt darüber ist er nicht. Er hat schon eine Idee, wie sie das Problem lösen werden.