Wembley liegt der deutschen Mannschaft wirklich
Leon Goretzka machte das wirklich überragend gut. So viel Liebe zum Detail. Das Setting stimmte, das Timing, seine Positionierung. Es lief im Spiel gegen Ungarn die 84. Minute, der Ball kam von der linken Seite, und Goretzka stand einen guten Schritt innerhalb des Strafraums, leicht rechts vom Elfmeterpunkt. Aber dann unterlief ihm ein entscheidender Fehler. Er schoss mit seinem starken rechten Fuß.
Beim historischen Original, als Rahn aus dem Hintergrund schießen musste, war es geringfügig anders gewesen. Auch da, im WM-Finale 1954, hieß der Gegner Ungarn. Auch da lief die 84. Minute. Auch da kam der Ball von der linken Seite „nach innen geflankt“. Auch da stand Helmut Rahn einen guten Schritt innerhalb des Strafraums, leicht nach rechts versetzt. Aber nachdem er einen ungarischen Verteidiger mit seinem starken rechten Fuß ins Leere geschickt hatte, schoss Rahn mit seinem schwächeren linken, traf zum 3:2 und machte Deutschland damit zum ersten Mal zum Weltmeister.
Am Mittwoch in München war es anders als 1954 in Bern kein WM-Finale, sondern nur ein profanes Gruppenspiel. Die Begegnung endete auch nicht mit einem Sieg für die Nationalmannschaft, sondern 2:2 unentschieden. Aber der Effekt war der gleiche: Goretzkas Tor ließ die Deutschen triumphieren und stürzte die zuvor so zuversichtlichen Ungarn in tiefe Verzweiflung.
Southgate vergab 1996 im Elfmeterschießen gegen Köpke
Überhaupt ist die Fußball-Europameisterschaft ein Fest für Nostalgiker, zumindest aus deutscher Sicht. Man könnte sogar behaupten: So flatterhaft, wie die Nationalmannschaft bei diesem Turnier bisher aufgetreten ist, sind es neben den Segnungen des Spielplans vor allem die historischen Analogien, die die Hoffnung auf den vierten EM-Titel nähren. Es sind so viele, dass es fast schon peinlich ist.
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Am Dienstag geht es für die Deutschen weiter. Im Achtelfinale gegen England. So wie bei der WM 2010, als die Mannschaft im ersten Spiel der K.-o.- Runde mit 4:1 über die Engländer hinwegfegte. Oder wie bei der EM 1996, als sich beide Teams im Halbfinale gegenüberstanden. Fast auf den Tag ein Vierteljahrhundert ist das jetzt her. Und so, wie das Wembleystadion am Dienstag, am 29. Juni, der Spielort sein wird, so war es das auch am 26. Juni 1996.
„Wembley liegt uns“, behauptet Manuel Neuer, der Kapitän der Deutschen. Und das ist keineswegs so dahergesagt. An diesem heiligen Ort des englischen Fußballs hat die deutsche Nationalmannschaft zuletzt 1975 verloren. Seitdem gab es dort sieben Aufeinandertreffen. Zwei endeten unentschieden, fünf entschieden die Deutschen für sich.
Wie es am Dienstag ausgeht? Die Deutschen gewinnen im Elfmeterschießen. Wie sonst? Schließlich werden die Engländer von Gareth Southgate trainiert, der 1996 als einziger Schütze scheiterte. An Andreas Köpke im deutschen Tor, der jetzt zum Trainerstab von Joachim Löw gehört.
Auch 1996 war nicht alles gold
Titel ist Titel, wie er letztlich zustande gekommen ist, interessiert irgendwann niemanden mehr. „Man verherrlicht das im Nachhinein immer: Europameister. Super“, hat Matthias Sammer in einer sehenswerten Dokumentation des NDR gesagt, die an den EM-Titel vor 25 Jahren erinnert.
Wie wacklig das alles 1996 war, ist längst in Vergessenheit geraten. Nur mit viel Glück überstanden die Deutschen damals die Gruppenphase. Im letzten Vorrundenspiel gegen Italien standen sie – so wie am Mittwoch gegen Ungarn – ganz knapp vor dem Aus. „Das war so ein schlechtes Spiel“, sagt Sammer. „Wir wussten gar nichts.“
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Die Italiener, das spielerisch vielleicht stärkste Team der Vorrunde (noch eine Parallele zur aktuellen EM), waren drückend überlegen, bekamen schon in der Anfangsphase einen Foulelfmeter zugesprochen. Doch Gianfranco Zola scheiterte an Köpke, der überhaupt einen überragenden Tag erwischt hatte und seinem hilflosen Team das 0:0 sicherte, das zum Weiterkommen reichte. Die Italiener hingegen schieden als Gruppendritter schon nach der Vorrunde aus.
Rom als nächstes gutes Omen
Bevor die Deutschen zum Halbfinale und Finale noch einmal nach London und ins Wembleystadion zurückkehren (genau wie 1996), führt sie der Turnierplan an einen weiteren legendären Ort der deutschen Fußballgeschichte: ins Olympiastadion von Rom. Dort würde die Nationalmannschaft, einen Erfolg gegen die Engländer im Elfmeterschießen vorausgesetzt, im Viertelfinale auf den Sieger der Begegnung Schweden gegen die Ukraine treffen. Von ihren sieben Titeln bei Welt- und Europameisterschaften haben die Deutschen an diesem Ort gleich zwei gewonnen: bei der EM 1980 und der WM 1990.
Auch im Halbfinale der Europameisterschaft könnte es zu einem Duell mit Geschichte kommen. Wahrscheinlichster Gegner für die Deutschen ist nach den Eindrücken der Vorrunde Holland. Für den 7. Juli ist das Halbfinale terminiert. Auf den Tag 47 Jahre nach dem WM-Finale von 1974. Müßig zu erwähnen, wer sich damals in München gegenüberstand. Und wer als Sieger den Platz verlassen hat.