Wir Deutschen tun so, als wären wir die Heiligen Europas
Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de, auf Twitter unter @Brinkbaeumer
Mein liebstes Wort des Sommers ist „Üfa“. Ich hab’s in einem Tweet meines einstigen „Abendzeitung“-Kollegen Jörg Heinrich entdeckt. Namenswitze seien feige, lehrten meine weisen Eltern, aber das ist eine Weile her. „Üfa“ macht sich mit seinem Sound – und ohne E – über die UEFA lustig, die das kein bisschen besser verdient.
Die Üfa veranstaltet eine EM in einer Pandemie: Mannschaften, Funktionäre, Fans fliegen nun zur Delta-Variante und mit ihr wieder heim; was romantisch verbindend aussehen sollte, ist zynisch. Mit vielen Spielen belohnt die Üfa Viktor Orbán dafür, dass dieser das Stadion von Budapest mit Nichtmaskierten vollpacken lässt. Sie heuert teure Agenturen an, auf dass Slogans wie „Sign for an equal game“ entstehen. Dass das Münchner Stadion trotzdem nicht in den Farben des Regenbogens leuchten durfte, als Deutschland gegen Ungarn spielte, geschah auf Weisung der Üfa.
„Deutschland, Deutschland, homosexuell“, riefen ungarische Fans. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter erregte sich über die Üfa, und ich wunderte mich darüber, dass ich für exakt diesen Moment auf deren Seite stand: Wieso eigentlich sollte das Stadion nur in der Abgrenzung gegenüber Ungarn tolerant sein?
Homosexualität ist hierzulande noch nicht lange legal
Wir sind nicht die Heiligen Europas, selbst wenn wir den heiligsten Ernst des Kontinents hinkriegen. Homosexualität ist auch in Deutschland noch nicht lange legal: Dass sie „eindeutig gegen das Sittengesetz“ verstoße, befand noch 1957 das Bundesverfassungsgericht. Wie offen, tolerant, frei sind wir heute?
Die Angriffe auf Toleranz und Meinungsfreiheit kommen heute von beiden Seiten, rechts wie links, doch das bedeutet nicht, dass sie einander glichen. Oder gleich gefährlich seien. Es gibt, von rechts, diese täglich wiederholte Behauptung, unterdrückt zu werden. „Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann?“, fragte das Institut Allensbach und 44 Prozent sagten „nein“, besonders die Anhängerschaft der AfD (62 Prozent), aber auch der FDP und der Union. Heikle Themen seien Muslime und der Islam, Patriotismus, Emanzipation und die deutsche Sprache, dieses Genderdings.
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Sprache darf niemanden ausschließen
Es gibt, vom selben Ort aus, den Versuch, tabuisierte Wörter in den Diskurs zurückzuholen. Er lasse sich seine „Zigeunersauce“ nicht verbieten, sagte Heino der „Bild“. Stets folgt die organisierte Wut, die gegen einen angeblichen linken Meinungsterror gerichtet ist und durch diese Behauptung davon ablenkt, dass sie Andersmeinende einschüchtern möchte.
Von links kommt etwas anderes. Zunächst einmal ist da eine ernsthafte Sehnsucht: Der Wunsch, Frauen oder Minderheiten durch Sprache ein- und nicht auszuschließen, ist so legitim wie zeitgemäß. Die wenigsten Menschen wollen erziehen oder missionieren, sie haben bloß für sich einen Standpunkt gefunden.
Es wäre gutgläubig, wenn ich behauptete, dass es „cancel culture“, die Jagd auf vermeintlich Unmoralische, nicht auch gebe; oder jene Grüppchen, die existieren, um den eigenen Mitgliedern zu versichern, im Edelmut höherwertig zu sein. „Just Nation“, gerechte Nation, nennt der Autor George Packer die Selbstgewissen. Toleranz, die echte, ist sowohl nachhaltig wie spontan. Manuel Neuer trägt seine Regenbogen-Armbinde bei dieser EM, das unterscheidet ihn vom Aktionismus des Münchner Oberbürgermeisters. Der eingewechselte Leon Goretzka hatte das bangende Deutschland gegen Ungarn zum 2:2 geschossen – im ekstatischen, mutmaßlich gedankenfreien Moment formte er mit den Händen sein Herz.