„Nomadland“ zeigt die dunkle Seite des amerikanischen Traums
Manchmal ist es nur ihr Gang. Ihre Gestalt schiebt sich vor den Abendhimmel, eine schmale, ältere Frau, die allein den Weg zwischen den Wohnwagen und Kleinbussen abschreitet, wo die anderen Arbeitsnomaden leben. „I’m not homeless, just houseless“, ich bin nicht obdachlos, nur ohne Haus, sagt Fern aus Empire, Nevada, einem Kaff am Rande der Wüste. Sie sagt sonst nicht viel.
In Empire wurde die Gipsmine geschlossen, in der Fern und ihr Mann gearbeitet haben. Ihr Mann ist gestorben, alle sind weggezogen, sogar die Postleitzahl wurde gelöscht. Fern zieht die Tür der Wohnbaracke hinter sich zu, drückt die Jeansjacke ihres Mannes an sich, packt die Herbstlaub-Teller ein, ein Familienerbstück, und macht sich im Van auf den Weg, quer durch Amerika bis an die kalifornische Küste. Eine Arbeitsnomadin mit einem Zuhause auf Rädern. Wie so viele in Amerika, diesem Land mit den unbegrenzten Möglichkeiten, aus einer soliden Existenz ins soziale Nichts zu fallen.
Frances McDormand ist Fern. Klingt fast wie Fran, so wird McDormand von Freunden genannt, auch von Regisseurin Chloé Zhao. Die Schauspielerin und ihre Rolle, für die sie zum dritten Mal einen Oscar gewann, changieren noch mehr als sonst.
Das Resolute, die Aura der Lakonie, die Undurchdringlichkeit, zugleich der unvermittelte, unausweichliche Blick: Es ist das Gegenteil ihrer vorherigen Rolle, der expressiven Heldin in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“, einer zornigen Mutter auf Rachefeldzug.
Aber auch mit ihrem minimalistischen Spiel erweist sich McDormand als Meisterin der Selbstbehauptung auf verlorenem Posten. Und das Gegenteil verkörpert sie auch, sie wird zum Medium für die Menschen, denen sie begegnet in Chloé Zhaos semifiktionalem US-Drama „Nomadland“.
Menschen wie Linda May, Swankie oder der Vietnamveteran Bob Wells, der alljährlich im Rubber Tramp Rendezvous in Arizona Anfänger-Nomaden willkommen heißt und gegen die Tyrannei des Dollars wettert. Die Schauspieler in diesem Film – außer McDormand noch David Strathairn alias Dave, der ein Auge auf Fern hat – sind von realen Arbeitsnomaden umgeben.
Menschen, die bereits in Jessica Bruders gleichnamigem Reportagebuch auftauchen, der Vorlage zum Film: Wie die Journalistin haben auch Zhao und McDormand viel Zeit mit ihnen verbracht. Fern lernt von ihnen die zehn Gebote des heimlichen Parkens, welche Plastikeimer sich am besten als Toilettenersatz eignen und dass man immer einen Ersatzreifen dabeihaben soll. Sie hockt mit ihnen zusammen, hört ihnen zu.
[Über die Entwicklungen in den USA unter Präsident Joe Biden informiert Sie unser USA-Newsletter: Washington-Weekly. Hier geht es zur Anmeldung.]
Die Rente reicht nicht zum Überleben, erst recht nicht für die Krebstherapie, wenn es denn überhaupt Rente gibt. Deshalb sind sie unterwegs, basteln sich etwas Behaglichkeit in ihre Vans und halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.
Fern packt Pakete in einer riesigen Amazon-Halle, schrubbt Klos auf einem Campingplatz in den Badlands, verkauft Souvenirs in den Nationalparks von South Dakota, frittiert Pommes in einer Restaurantküche, erntet Rüben in Nebraska.
Ein Film auch über Arbeitswelten, über Maloche für ganz wenig Geld. Und über die kleinen Freuden dazwischen. Einmal leisten sich Fern und Linda May eine Wellness-Pause auf Campingstühlen, mit Gesichtsmasken aus Gurkenscheiben und feuchtem Toilettenpapier.
Den Löwen in Venedig gewann sie ebenfalls
Für ihr Roadmovie über jene Amerikanerinnen und Amerikaner, die das Land aussortiert hat – es ist die Zeit nach der Weltfinanzkrise 2008 –, gewann die Filmemacherin den Löwen in Venedig, den Regie-Oscar und den Oscar für den besten Film, als zweite Frau nach Kathryn Bigelow in der Geschichte der Academy Awards.
Chloé Zhao ist die Regisseurin der Stunde. „Ich fühle mich immer als Außenseiterin“, erzählt die 39-Jährige einer kleinen Journalistenrunde im Videocall. „Wo ich auch bin, ich identifiziere mich mit anderen Außenseitern.“ Diesmal sind es die Opfer der Rezession in der Generation der 60-, 70-Jährigen, die keine Zukunft mehr haben und sie sich dennoch nicht nehmen lassen. Man sieht sich, sagen sie, wenn sie wieder aufbrechen.
Eine Chinesin in Amerika: Chlóe Zhao wuchs in Peking in einer wohlhabenden Familie auf, sie ging in England aufs Internat, studierte Film in New York und lebt heute unweit von Los Angeles. Sie sagt, sie hat ein komplexes Verhältnis zu den USA, das mythische Amerika betrachtet sie auf ihre ganz eigene Weise. Mit einem befremdeten, staunenden Blick.
So hält sie fest, was verschwindet, zeigt die verlorene Generation gerade der Frauen vor der grandiosen Landschaftskulisse des amerikanischen Westens, erklärt die Arbeitsnomaden zu den Westernhelden von heute. Ja, „Nomadland“ ist ein Western über prekäre Pioniere und ihre innere Freiheit, über ihr „natürliches Charisma“, sagt die Regisseurin.
Und über ihre Fähigkeit, auf sich alleine gestellt zu sein und dennoch Solidargemeinschaften zu bilden, sich wiederzufinden, hunderte Meilen oder eine Saison später.
Es ist oft dunkel in diesem Film. Frances McDormand, ein Schattenriss im Gegenlicht. Die Gesichter werden von Camping- Gaslampen spärlich erhellt oder sind in den Schein des Lagerfeuers getaucht, wie im Western. Die Kamera von Joshua James Richards, Zhaos Lebensgefährten, zollt den Protagonisten Respekt, hegt sie ein, teilt die Dunkelheit mit ihnen und schenkt ihnen traumhafte Sonnenuntergänge. Man denkt an Gemälde von Turner, an Filme von Terrence Malick.
„Joshua wuchs in Cornwall auf, und mit Western. Er hat eine enge Beziehung zur Natur“, erzählt Chloé Zhao. Und dass sie das Licht, die Landschaft auf zeitlose Art zeigen wollten. „In den letzten 20 Minuten des Tageslichts kommt alles zusammen, dann verschwindet alles Harte und Trennende, das ist das Wichtigste.“
Harte Realität und Poesie
Poesie und die harte Frontier-Realität, auch das fließt ineinander. Auf den etwas kitschigen Klavier-Geige-Soundtrack von Ludovico Einaudi ist Zhao gekommen, indem sie „schöne klassische Musik, die von der Natur inspiriert ist“ in die Google-Suchmaske eingab.
Sie wollte eine Filmmusik, die all die episodischen Momente des Roadmovies verbindet. „Shall I compare thee to a Summer’s day?” Einmal rezitiert Frances McDormand Shakespeares 18. Sonett, ein Gedicht über die immerwährende Liebe.
Adaptiver Realismus wird Zhaos Stil gerne genannt. Auch die Helden ihrer ersten beiden Filme, „Songs My Brothers Taught Me“ (2015) und „The Rider“ (2017), fand sie in der amerikanischen Realität, auch sie suchen ihren Platz im Leben.
Der Rodeoreiter hatte einen Unfall
Der Junge aus dem Stamm der Lakota, der weg möchte aus dem von Alkohol und Arbeitslosigkeit kaputt gemachten Reservat, wäre da nicht seine kleine Schwester. Und der Rodeoreiter, der nach einem Unfall nicht mehr aufs Pferd darf und damit klarkommen muss.
Jetzt ist erstmals ein Star wie Frances McDormand dabei. Wie geht das zusammen mit den Laiendarstellern, die dem Film ihre Lebensgeschichten schenken? Swankies Handyvideo von den Schwalbennestern an der pazifischen Felsenküste zum Beispiel, die die alte Frau noch einmal sehen will, ein letztes Mal vor ihrem Tod. Die größte Herausforderung bestehe darin, die richtigen Profis und die richtigen Laien zu finden, meint Chloé Zhao.
[“Nomandland läuft ab Donnerstag in den Kinos, beispielsweise im Cinemaxx Potsdamer Platz, Kino Hackesche Höfe, International, Il Kino, Rollberg, auch OV und OmU]
Frances McDormand sei ja deshalb Schauspielerin, weil sie das Leben anderer erkunden will. „Und dann muss ich eine Atmosphäre schaffen, in der beide sich wohl fühlen.“ Dabei dürfe sie das Augenmerk nicht zu sehr auf die Laien lenken, denn auch die Profis seien verletzlich. „Die Laien haben ihr Leben wieder, sobald die Kamera nicht mehr läuft. Für die Profis ist die Kamera ihr Leben. Zu sagen, ach, die spielen ja nur, wäre falsch.“
Spiel mir das Lied vom Leben. Fern besucht Dave, der sich als frischgebackener Großvater für die Sesshaftigkeit entschieden hat. Sie erkundet das Haus wie einen fremden Planeten, die Möbel, das Bett, seltsame Dinge. Es passt ihr nicht.
Zhaos Marvel-Film kommt im Herbst
Auch das gottverlassene Empire sucht sie noch einmal auf, schaut durchs Fenster zu den Bergen am Horizont, in die dunstverschleierte Wüste. Welche Sicherheit braucht der Mensch, welchen Rahmen, welche Gemeinschaft – und welchen Weitblick? Was ist zuhause? Fragen, die nur beantworten kann, wer unterwegs ist.
Auch Chloé Zhao hat sich auf den Weg gemacht, sie hat ihren ersten Blockbuster gedreht, selbst das Buch dazu geschrieben. Ihr Marvel-Film „Eternals“ mit Angelina Jolie und Salma Hayek soll im November starten. Kunst und Unterhaltung, sie fände es gut, wenn auch diese getrennten Welten wieder zusammenfinden.
Wie riecht die Wüste?, will eine Kollegin zum Schluss noch wissen. Wie trockenes Holz, meint Chloé Zhao. Nein, besser, die Wüste riecht wie die Sonne.