Mit Archivschätzen spielen

Mitten in die Debatte um einen Abriss des Palasts der Republik und eine Rekonstruktion des Stadtschlosses platzte vor 15 Jahren der Tagesspiegel mit dem Bericht über einen sensationellen Archivfund. Ein 200 Jahre altes Gipsmodell Schinkels von der Berliner Stadtmitte war aufgetaucht, angeblich im Zweiten Weltkrieg als Beutekunst in die Sowjetunion verschleppt.

Das Gipsmodell sah einen Teilabriss des barocken Schlosses vor und die Ausweitung des Lustgartens zu einem großen öffentlichen Forum. Das waren allerdings Fake News, listig lanciert von den Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank, die mehr gedankliche Bewegung in die Debatte um die Berliner Mitte bringen wollten.

Erinnert sich noch jemand daran? Will sich noch jemand erinnern? Das schiere Gewicht, mit dem das Schlossgespenst den historischen Ort zurückerobert hat, verändert auch unser Zeitgefühl. Die barocke Pracht scheint immer dagewesen zu sein, nie Gegenstand von Kritik. Hingegen wirken die Fotos vom Palast der Republik und die alternativen Entwürfe wie aus einer unendlich ferngerückten Vorzeit.

Die Ausstellung „Arbeit am Gedächtnis“, ein Projekt zum 325. Geburtstag der Akademie der Künste, sträubt sich gegen diese Koordinatenverschiebung. Sie zeigt nicht nur das Schinkel zugeschriebene Gipsmodell „im Original“, sondern auch eine Filmprojektion, die Aufnahmen vom Palast der Republik mit der Herrschaftsarchitektur des Schlosses kontrastiert.

Drumherum hat Thomas Heise, Direktor der Sektion Medienkunst an der Akademie, einen ganzen Saal dicht mit Archivalien zur Geschichte der Akademie in Ost-Berlin gefüllt. Ihre Fusion mit der West-Akademie im Jahr 1993 hinterließ ähnliche Wunden und Gedächtnislücken wie das Verschwinden des Palastes der Republik. Heise arbeitet dagegen an.

Die Korrespondenzen ehemaliger Akademie-Mitglieder

Mit einer Flut von Dokumenten erinnert er an die vergessenen korrespondierenden Mitglieder der Ost-Akademie. Sie knüpften in den DDR-Jahren ein weltweites Netzwerk, das von Pablo Picasso bis Akira Kurosawa, von Peter Weiss bis Ernst Jandl reichte.

Im Zuge der Akademiefusion wurden diese Mitglieder sang- und klanglos verabschiedet. Ihre Geschichte erzählt jedoch viel über das Streben der Ost-Akademie, den Provinzialismus zu überwinden, den die SED-Kulturpolitik den Künstlerinnen und Künstlern in der DDR aufzwang. Und über die internen Konflikte innerhalb der Institution.

Um Heises überkomplexer Installation von Archivmaterial in die feinen Verästelungen zu folgen, braucht es wenigstens eine Stunde Lesezeit. Überhaupt sollte man viel Zeit für die gesamte Ausstellung mitbringen, die aus den alten Akademiesälen überbordend in die Foyers, durch ein Treppenhaus bis zum Dach und runter bis in die Kellergeschosse mäandert.

Wie wird kulturelle Überlieferung in einer Diktatur geprägt?

Ein Kaleidoskop zu den Themen Erinnern, Vergessen und Archivieren wird hier aufgeboten, so kontrovers wie die Debatte über Begriffe, Straßennamen oder Museumsstücke, die plötzlich als historisch belastet gelten. Zielstrebig postkolonial ordnet Eduard Molinari Fotos und Dokumente, die den Genozid an einem indigenen Volk in den Anden als langen historischen Prozess erkennbar machen. „Beweismittel“ heißt seine Installation.

Gleich daneben hat Arnold Dreyblatt Archivalien aus dem Akademiearchiv so kunstvoll im Raum verteilt, dass bei bestem Willen kein Sinn darin zu erkennen ist. In Anlehnung an John Cage versucht dieses „Archivkarrussell“ die Objekte aus jeder hierarchischen Ordnung zu befreien. Eine dritte Arbeit reflektiert die Prägung der kulturellen Überlieferung in einer Diktatur. In einer farbenfrohen Filminstallation von Cemile Sahin sehen wir drei Irakerinnen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Sturz Saddam Husseins zu feiern. Sie erzählen, wie es sich anfühlte, in der Selbstinszenierung eines autoritären Regimes gefangen zu sein.

[Akademie der Künste, Pariser Platz 4, bis 19. 9., Di-So 11-19 Uhr, Zeitfenstertickets: adk.de]

Den Auftakt der Ausstellung macht Candice Breitz mit einer Videoinstallation („Digest“) ohne Geflimmer. Tausendundeine VHS-Videokassette, alle bespielt, hat sie versiegelt und die Schutzhüllen in Anlehnung an die originale Typografie einheitlich schwarzweiß überarbeitet. Wie kleine Särge wirken diese akkurat aufgereihten Sinnbilder der Vergänglichkeit eines überholten Speichermediums.

Tausendundeine unlesbar gemachte Geschichte, mit inspiriert durch Nachrichten von der arabischen Prinzessin Latifa, die derzeit gegen ihren Willen in der Vereinigten Arabischen Emiraten festgehalten wird. Auf diese konzentrierte, stumme Arbeit folgt eine verwirrende Bildercollage von Alexander Kluge, aus deren Zerfaserung man immerhin einen hübschen Adorno-Kalauer mitnimmt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen.“

Die Geschichte der Sieger

Aus dem Archiv der Akademie, das 1200 Künstlernachlässe umfasst, stammen Belege für produktive Erinnerungsarbeit aus allen Kunstsparten: ein Zettel mit Walter Benjamins Reflexion „Ausgraben und Erinnern“ von 1932, die Selbstvergewisserung über das eigene Leben in den „Arbeitskurven“ von Käthe Kollwitz, Dokumente zu Mary Wigmans „Tanz der Erinnerung“ oder der musikalische „Rückblick“ der Komponistin Ursula Mamlock auf die Reichspogromnacht.

Ein durchsichtiges Plastikkästchen mit winzigen Menschenfigürchen aus dem Nachlass Walter Kempowskis versinnbildlicht sein „Echolot“, ein episches literarisches Zeitbild aus Alltagsschriftgut, das der Autor über Jahre hinweg eingesammelt hat.

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Black lives matter, aber wie steht es damit in der kulturellen Überlieferung? Die Schriftstellerin Ulrike Draesner hat im Akademiearchiv nach den Stimmen nichtweißer Menschen gesucht. Eine Leerstelle, die verrät, dass auch dieses Archiv eine „Geschichte der Sieger“ schreibt: „Die Stimmen jener, die sich durchgesetzt haben, sind bewahrt. Die Stimmen der Verlierer aber sprechen mit. Sie sind die Schmuggelware eines Archivs.“ Eben deswegen sollten uns die Archive heilig sein, unantastbar. Sie enthalten nicht die historische Wahrheit, aber die Beweismittel, die ein Umschreiben der Geschichte begründen können.

Nach einigem Umherirren im Akademielabyrinth hält der Fahrstuhl im dritten Untergeschoss, tief unter dem Pariser Platz. Oben tobt das Fegefeuer der Kritik an der kulturellen Überlieferung. Hier unten herrscht plötzlich eine meditative Stimmung. Robert Wilsons minimalistische Filminstallation zeigt Gesicht, Hände und Füße der japanischen Tänzerin Suzushi Hanayagi.

Als Wilson sie filmte, war sie von der Alzheimer-Krankheit fast vollständig gelähmt. Doch dem Regisseur gelang es, Hanayagi durch Gesten an die gemeinsame Theaterarbeit zu erinnern und mit ihr in Kontakt zu treten. Ihre letzten, von Wilson aufgezeichneten Tanzgesten („Dancing in my mind“) berühren. Am Ende sind es immer die einfachen Geschichten, die lange im Gedächtnis haften bleiben.