Ihre Liebe ist wie ein Zitrangenbaum
Lampions hängen im Garten. Von Paris bis in die tropischen Kolonien wird am 14. Juli Frankreichs Nationalfeiertag begangen, auch bei der Familie Belhaj in Marokko. Es ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Elsässerin Mathilde lebt hier mit ihrem Mann Amine. Als Soldat eines kolonialen Spahi-Regiments war der junge Marokkaner 1944 Teil der französischen Truppen, die das Elsass befreiten.
Siegreich und mit einer französischen Gattin war er zurückgekehrt auf seinen Grund und Boden, ein Gehöft nah der Stadt Meknès. Da wohnen sie nun, von vielen Seiten beargwöhnt, im Labyrinth der Loyalitäten zu zwei Welten. Sinnbildlich steht ein Orangenbaum, auf den ein Zitronenzweig aufgepfropft wurde für die „Mischehe“, von der Familie lustig „Zitrangenbaum“ genannt.
Mathilde schickt geheuchelte Briefe über Exotik und Abenteuer nach Hause, während Amine vergebens versucht, den kargen Boden in ein Stück „Kalifornien“ zu verwandeln, mit Zitrusfrüchten, Eukalyptus, Olivenhain und Bewässerungskanälen. Mathilde, schockiert von einer Kultur, in der Scham, Schweigen und Gewalt zum Alltag gehören, will über Gefühle reden, er über Traktoren und Saatgutpreise.
„So ist das hier“, versetzt ihr Mann. Er missbilligt, wie sie, die in Romanen schwelgt, den Nachwuchs verzärtelt und sich nach Ausflügen und Picknicks sehnt, einem Zeitvertreib, so überflüssig und peinlich wie die Übertretung seiner Frau, als sie ihn auf einen Männerabend begleitet. Dann wieder ist er stolz auf sie, und sie auf ihn. Und sie genießen, bisweilen, den ehelichen Sex.
Für Leïla Slimani, 1981 in Rabat als Tochter einer Familie der örtlichen Elite geboren, ist die Geschichte ihrer Großeltern die Folie, auf der sie, bilderreich und unbefangen konventionell erzählend, die Szenen einer Ehe in der Ära der marokkanischen Befreiungskämpfe entwirft. Als Wunderkind der französischen Literatur erhielt Slimani 2016 für „Chanson douce“ („Dann schlaf auch du“) den Prix Goncourt, und jongliert selbst mit ihrer „janushaften“ Herkunft.
Ihr Roman stellt einfache Dichotomien in Frage
Mal erklärt sie, sie habe sich „immer hundertprozentig französisch und hundertprozentig marokkanisch gefühlt“, ein andermal, sie fühle sich „nirgendwo zu Hause“, sondern lebe in einer Art innerem Exil. Von konservativen Marokkanern werde sie beleidigt, wenn sie sich für die Rechte von Frauen und Homosexuellen und gegen Islamismus einsetze, in Frankreich gelte sie als „arabisch-bourgeoise“ Autorin, wenn sie dortige Zustände kritisiere – bis heute scheinen die Schismen fortzuflimmern, unter denen ihre Großeltern gelitten hatten. Doch der Erfolg der Enkelin gehört zur Gegenwart, die vielschichtiges Erzählen möglich macht, wie hier in „Das Land der Anderen“, dem ersten Teil einer Trilogie.
Slimanis historisches Tableau stellt die Gewalt der Spaltung in Schwarz und Weiß infrage. Es lebt vom Blick auf das Changieren und Oszillieren, anders als der dichotomische Kosmos der Kolonie mit seinen Kategorien: Männer und Frauen, Tradition und Moderne, Marokko und Frankreich, Christentum und Islam. In Meknès leben marokkanische Familien in der Medina, französische in der Ville Nouvelle.
[Leïla Slimani: Das Land der Anderen. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand Verlag, München 2021. 384 Seiten, 22 €.]
In der Altstadt dürfen Frauen nicht einmal durch die Rillen der Fensterläden auf die Straße lugen, im Viertel der Franzosen leuchten Kinos, und Läden führen Mode von Dior. Mädchen aus der Nonnenschule, die Mathildes und Amines Tochter besucht, halten deren dunkelhäutigen Vater für den Chauffeur der Familie, denn Schnittmengen sind nirgends vorgesehen. Doch faktisch ist jeder koloniale Kosmos hybrid, wie die Beziehung von Amine und Mathilde beispielhaft abbildet, in Attraktion und Angst, Lust und Widerwillen, in all den Ambivalenzen und Ambiguitäten, mit denen beide hadern.
Die Charaktere sträuben sich gegen Stereotype
Einig ist sich das Paar, dass Fortschritt nottut, in Landwirtschaft wie Gesundheit. Mathilde baut eine improvisierte Ambulanz auf, mit Kampfer, Seife, Äther, Jod und Gaze behandelt sie verdreckte Wunden. Ein französischer Arzt warnt, man solle die abgehärteten Einheimischen nicht wehleidig machen, ein ungarischer Arzt, staatenloser jüdischer Flüchtling, stattet die Ambulanz aus seiner Praxis aus. Er wird zum Freund der Familie und könnte bald zu den zweitausend der Viertelmillion Juden Marokkos gehören, die nach den Vertreibungen der fünfziger Jahre im Land blieben.
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Slimanis Charaktere sträuben sich gegen Stereotype, und meistens erfolgreich. Madame Fabre, eine alternde Französin ungewisser Herkunft, bekniet junge Araberinnen, auf Schulbildung zu bestehen. Amines Vorarbeiter Mourad, tyrannischer als viele französische Chefs, pocht auf militärische Disziplin und Ordnung, er ist verhasst. Amines Bruder Omar will die Ordnung der Franzosen umstürzen, er verliert als Rebell das Erbarmen selbst für seine Kameraden. Gedemütigt von der kolonialen Justiz will der gebildete Anwalt Hadsch Karim zwar die Unabhängigkeit, doch nicht um den Preis eskalierender Gewalt.
Von den Konflikten, deren Brodeln alle erfasst, sucht das Paar sich fernzuhalten, lebt jedoch mittendrin. Vollends verunsichert ist die kleine Tochter Aïcha, als der Aufstand mörderischer wird und französische Plantagen abgefackelt werden. Aïcha will vom Vater wissen, zu welcher Seite ihre Familie gehört. „Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange“, sagt er. „Wir gehören zu keiner Seite.“ Slimani schildert mit Mathilde und Amine „zwei hybride Wesen“, denen alle Gefühle vorkamen „wie Verrat“, und politische wie kulturelle Risse zerspleißen die Familie.
Vor dem zweiten Teil der Trilogie fürchtet man sich ein wenig
Die Liebschaft seiner Schwester Selma mit einem Franzosen reizt Amine zu Wut und Gewaltausbrüchen, er drängt sie in eine Ehe mit dem Vorarbeiter Mourad, und Mathilde steht der Schwägerin nicht bei. Subkutan scheint sie sich archaischen Normen anzupassen und das Zerschellen von Hoffnung hinzunehmen.
Je näher wiederum Marokkos Befreiung rückt, getrieben von Rufen nach Sultan und Monarch, desto mehr scheint Amine Belhaj an seiner „Mischehe“ zu zweifeln, und ähnlich rassistischen Argwohn zu entwickeln wie den vieler Europäer. Als Agronom gibt es ihm zu denken, „dass die Früchte des Zitrangenbaums ungenießbar waren“, trocken und bitter ist das Fruchtfleisch der gemischten Pflanze.
Kurz blitzen versöhnliche Augenblicke auf, etwa als der ungarische Arzt berichtet, dass Omar die Straßenschlacht in der Altstadt überlebt hat, bei der es viele französische Opfer gab. „Sie freuten sich nicht über das Unglück des anderen. Sie lauerten nicht darauf, dass einer von ihnen weinte oder jubilierte (…)“. Amine und Mathilde atmeten auf. Vor dem zweiten Teil der Trilogie fürchtet man sich ein wenig. Doch wer weiß.