Hoppla, ein Galgen, das riecht nach Kultur
Am Ende stirbt sie allein. Nicht in den Armen ihres Geliebten, der ungerührt abgeht, Hände in den Hosentaschen. Els und Elis, die „Kinder von Traumkönigs Gnaden“, wie es in Franz Schrekers Libretto heißt, sind aneinander gescheitert. Der Komponist verweigert ihnen den Märchenschluss, und in Christof Loys Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin hat auch die nochmals beschworene Chimäre einer Liebe keine Chance.
Unerbittlich schlägt das Orchester zu. Auf die letzten zarten Pianissimo-Gespinste folgt eine mörderische Tutti-Attacke. Der Friede bleibt trügerisch, über den Tod hinaus.
Rauschhaft und eruptiv: Schrekers Oper war ein Hit in der Weimarer Republik
Was für eine Oper. Rauschhaft züngelnd, erotisch und eruptiv, mit Sehnsuchtsgesängen, einer ruhelosen Harmonik, die sich nicht auflösen will, mit schillernden, den süßen Schmerz auskostenden Dissonanzen. Richard Wagner und Claude Debussy, diese Erz-Kontrahenten, stehen Pate, die unendliche rezitativische Melodie und die impressionistische Klangsinnlichkeit.
Und was für eine betörende Melange rührt Schreker da an, kaum dass es nach ein paar Harfentönen medias in res geht, mit einem aufgeregten Gespräch zwischen König und Hofnarr. Der Tristanakkord, „Lohengrin“-, „Nibelungen“- und “Pelleas”-Motive brodeln im narkotisierenden Gebräu, „La Bohème“, der Symbolismus, Schönberg und Richard Strauss, Sigmund Freud, die Echos der Fin-de-Siècle-Dekadenz und Humperdincks Märchenton.
Es war einmal eine Königin, deren Schmuck geraubt wird, eine Wirtstochter namens Els, die für den Schmuck, sprich: das Glück, die ihr nachstellenden Männer morden lässt, und ein fahrender Sänger, Elis, der den Schmuck mit seiner Wünschelruten-Laute aufzuspüren vermag. Els verfällt ihm, auch wenn ausgerechnet er ihrem Diebstahl auf die Schliche kommen kann. Aber verachte mir die Realität nicht: Die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs sind im krausen Plot allgegenwärtig.
1920 uraufgeführt, wurde „Der Schatzgräber“ zum Hit der Weimarer Republik, mit 385 Aufführungen in 50 Städten bis 1932. Kein Wunder, denn es geht kurzweilig zu. Ständig ist was los auf der Bühne, wenn Junker, Kanzler, Vogt, Wirt und Narr mitmischen und diese ganze Männergesellschaft die Frauen bedrängt, die stumme, anämische Königin, die dem König endlich einen Thronfolger gebären soll, ebenso wie die tatkräftige Els, die sich nimmt, was ihr verwehrt wird. Eine Kellnerin mit Schürze und Wischtuch als Femme fatale in höchster Not: „Ich bin so verworfen. Verzeih‘ mir Gott, ich kann ja nicht anders“, singt sie einmal.
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Der konvertierte Wiener Jude Schreker wurde bald von den Nationalsozialisten für entartet erklärt und geächtet, sein „Schatzgräber“ verschwand aus den Spielplänen. In Berlin ist die Oper seit 100 Jahren nicht mehr aufgeführt worden. Nach einer ersten Schreker-Renaissance vor 20 Jahren war es höchste Zeit für eine Wiederaufführung an der Spree.
Es ist das Verdienst der Deutschen Oper, dass die Erfolgsoper des Komponisten, der bis zu einem erzwungenen Rücktritt als Direktor der Musikhochschule auch in Berlin wirkte, nun endlich wieder zu sehen ist. Der Blick zurück nach vorn, zum Tanz auf dem Vulkan, hat 100 Jahre nach den Goldenen Zwanzigern ja auch anderswo Konjunktur, etwa im Film und in der Literatur.
Da passt es zunächst gut, dass Regisseur Loy das Seelen- und Künstlerdrama um die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben sowie über die Fallstricke des Eskapismus zum Gesellschaftsdrama erklär und der Chor unter Leitung von Jeremy Bines nicht nur hinter den Kulissen fromme Gesänge anstimmt. Ein finsterer hoher Saal, Marmorwände, ein ausgestopfter Panther (Bühne: Johannes Leiacker), die Herrschaft in schwarzen Anzügen, die Dienerschaft in roten Livrees, die Königin als Braut in Weiß (Kostüme: Barbara Drosihn), selten sind die Protagonisten allein.
Klassenkonflikt statt Psychoanalyse: Die Willkür der Mächtigen zwingt Ohnmächtige ins Verbrechen. Leider macht Loy wenig daraus. Die Öffentlichkeit (der vorzügliche Chor), in die er auch die intimen Szenen zerrt, bleibt Statisterie. Statt zu verdichten, vervielfältigt er, etwa wenn Els ihre Kindheitserinnerung samt Schlaflied im dritten Akt auf einer langen Festtafel singt – Table Dance quasi – und die anschließende Liebesnacht zur Gruppenorgie stilisiert und choreografiert wird.
Das Orchester stattet die Tonmalereien mit kräftigem Strich aus, schon wegen des Drucks, unter dem alle stehen
Auch Marc Albrecht am Pult verweigert den Rückzug ins Märchenreich. Das Orchester der Deutschen Oper führt Schrekers Tonmalerei mit klarem, kräftigem Strich aus, setzt mehr auf die Durchhörbarkeit des kompositorischen Aktionismus als auf das Aphrodisische und die hypnotische Wirkung – mit Ausnahme des ekstatisch-traumverlorenen Zwischenspiels im dritten Akt. Immerhin macht die sonst vorherrschende Lautstärke den Druck deutlich, unter dem die Figuren leiden.
Die Nuancen bleiben den Sängerinnen und Sängern vorbehalten, allen voran Elisabet Strid als Els, eine großartige Wagner-Sopranistin. Die Verwegenheit und Verzweiflung dieser sich selbst ermächtigenden Frau, alles legt sie in ihre Stimme, mit dem Mut zum Schrei wie zu hauchzarten Spitzentönen über dem Abgrund. Ein Mensch, ein Charakter, keine Fabelgestalt – auch wenn die Regie sie manchmal im Stich lässt.
[“Der Schatzgräber” unter dem Dirigat von Marc Albrecht und der Regie von Christof Loy steht an der Deutschen Oper wieder am 6., 10., und 14. Mai auf dem Programm sowie am 11. Juni.]
Ebenso bejubelt wird am Ende Michael Laurenz, der seinen Narr mit keckem Humor, analytischer Schärfe und Selbstironie ausstattet. Ein Beobachter und wendiger Außenseiter, zugleich der einzige, der für die Verlorene so etwas wie Herzensgüte aufbringt.
Daniel Johanssons‘ Elis wiederum hat es bei aller Souveränität seines Heldentenors nicht leicht in der ihm zugedachten Rolle des letztlich nur an der eigenen Gesangskunst interessierten Meistersingers. Unter den Machos bei Hofe, von Tuomas Pursios König bis zu Seth Caricos Junker, sticht vor allem Thomas Johannes Mayers vielseitiger Vogt hervor. Er kann gleichermaßen wüten und schmeicheln.
„Hoppla, ein Galgen, das riecht nach Kultur,“ kalauert der Narr. Der Mensch erklärt dem Menschen den Krieg. Was können die Künste da noch ausrichten, außer verworrene Balladen anzustimmen, so wie Elis es tut. Eine beschämende, schrecklich aktuelle Diagnose. Auch deshalb gehört „Der Schatzgräber“ jetzt auf den Spielplan, auf viele Spielpläne.