Dreieinhalb Millionen Jüdinnen und Juden versuchten einen Neubeginn

„From lager to lager till when?“, fragte anklagend ein Spruchband in einem Lager für „Displaced Persons“ (DP) in der US-Zone, nachdem die britische Mandatsverwaltung die Einreise nach Palästina verweigert hatte. Das war 1947. Erst ein Jahr später, als der Staat Israel gegründet wird, ändern sich die Bedingungen grundlegend. Die jüdischen DPs verlassen die Camps gen Israel, dem Ziel des Zionismus, andere in die Vereinigten Staaten, die jedoch zunächst nur 100 000 aufnehmen. Die Wartezeit zwischen dem Ende von Krieg und NS-Regime ist ihrerseits zu Ende.

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Das deutsche Wort „Lager“ ist in verschiedene Sprachen eingewandert, als Inbegriff der Unmenschlichkeit, in die Nazi-Deutschland sich systematisch gesteigert hatte. Nun wurden als „Lager“ auch die Auffanglager bezeichnet, in denen Vertriebene und Entwurzelte aus ganz Europa ab Mai 1945 vorübergehend, teils auf Jahre hinaus Aufnahme fanden.

Vor falschen und verharmlosenden Analogien sollte man sich hüten

Den dreieinhalb Millionen Jüdinnen und Juden in Europa, die den Holocaust überlebt hatten, ist die erste Sonderausstellung gewidmet, die die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in ihrem Domizil, dem früheren Deutschlandhaus am Askanischen Platz, als Übernahme aus dem Jüdischen Museum Frankfurt/Main zeigt.

Man hüte sich vor falschen und vor allem verharmlosenden Analogien; gleichwohl richten sich die Gedanken angesichts der Fluchtbewegung, die der russische Überfall in der Ukraine ausgelöst hat und Tag für Tag weiter verstärkt, auf die Allgegenwart von Flucht und Vertreibung zu allen Zeiten in dieser friedlosen Welt.

Das Dokumentationszentrum zeigt eine historische Perspektive auf

Dass das Dokumentationszentrum der Stiftung darauf keine aktuelle Antwort geben kann, liegt auf der Hand. Es ist vielmehr die Stärke der Einrichtung, stets die historische Perspektive für die Gegenwart aufzuzeigen. Auch die jetzige Ausstellung, obgleich sie sich mit einem abgeschlossenen Kapitel der Geschichte befasst, wirft ein Schlaglicht auf die Gegenwart.

Denn ein Großteil der überlebenden Juden des Jahres 1945 kam aus jenen Regionen, die heute erneut im Blickpunkt stehen: aus jenem Mittel- und Osteuropa, dessen politische Zugehörigkeiten sich wieder und wieder verschoben haben. Von der Zusammensetzung der Bevölkerung ganz abgesehen, die nach ethnisch-religiösen Kriterien zu separieren die furchtbarste Errungenschaft des 20. Jahrhunderts ausmacht.

Zehntausende Juden flohen in die DP-Lager der amerikanischen Zone

Am Beginn der Reihe der sieben Städte, an denen die Ausstellung „Unser Mut“ das Nachkriegs-Intermezzo erzählt, steht bezeichnenderweise Bialystok, versehen mit dem Untertitel „Die tote Stadt“. Ausstellungskuratorin Kata Bohus beschreibt im Katalog den vergeblichen, am erneut aufbrechenden Antisemitismus scheiternden Versuch, jüdisches Leben wiederaufzubauen. Im schlesischen Reichenbach, zum polnischen Dzierzoniów geworden, bildete sich eine große jüdische Gemeinde von bis zu 16 000 Mitgliedern, der Hälfte der Einwohnerschaft – zumal Niederschlesien als Ansiedlungsgebiet für 100 000 aus der Sowjetunion zurückkehrende polnische Juden ausersehen war.

Die Pogrome des Sommers 1946 in Kielce und anderenorts führten dann zur Flucht zehntausender Juden in die DP-Lager der amerikanischen Zone Deutschlands. Und nur Dzierzoniów mit seiner jüdischen Infrastruktur von Schulen, Krankenhaus und zeitweise sogar einem auf Jiddisch spielenden Theater blieb davon ausgenommen, bis die von Stalins Sowjetunion ausgehende Kriminalisierung des Zionismus ab Mitte 1948 jüdisches Leben unterband.

Amsterdam, Bari und Budapest sind weitere Städte, die in der Ausstellung in je einem eigenen Kapitel mit exemplarischen Schicksalen, mit persönlichen Erinnerungsstücken und Audio-Dokumenten vorgestellt werden. Frankfurt am Main als Zentrale der US-Zone und dementsprechend der DP-Camps sowie Ost-Berlin als Zentrum der SBZ und der kommunistischen Aktivitäten bilden die politischen Gegensätze der Nachkriegszeit eben auch in ihren jüdischen Aspekten ab.

Die Zeilsheimer Lagerzeitung trug den Titel „Unterwegs“

In der amerikanischen Zone kamen bis zu 165 000 DPs unter, von denen 110 000 in den Jahren 1946/47 nach den dortigen Pogromen aus Polen geflüchtet waren. Im Lager Zeilsheim bei Frankfurt lebten während dessen Bestehen jeweils um die 3000 Juden. „Von ihrer Anwesenheit in der amerikanischen Besatzungszone“, heißt es im äußerst lesenswerten Begleitbuch der Ausstellung, „versprachen sich die Geflüchteten bessere Chancen auf eine Ausreise in die USA oder nach Palästina“ – was dann auch im Sommer 1948 für die überwiegende Mehrzahl zutraf. In Zeilsheim wurde eine eigene Lagerzeitung ins Leben gerufen; ihr Titel „Undzer mut” in jiddischer Sprache stammt von einem Partisanenlied aus dem Jahr 1943 und gab der jetzigen Ausstellung ihren so aussagekräftigen Titel.

Denn in Deutschland zu leben, dem Land der Täter, und sei es nur „Unterwegs“ – wie die Zeilsheimer Lagerzeitung alsbald umbetitelt wurde –, erforderte ganz eigenen Mut. Unter dem Kommunismus, der die Verfolgung der Juden als lediglich soziales Randproblem abtat, kam es auch nach 1945 nur vorübergehend zu eigenständigem jüdischen Leben.

[Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstraße 90, bis 30. September. Katalog bei de Gruyter, 29,90 €.]

Juden mussten 1945 ihre Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ regelrecht erzwingen. Zum „Tag der Opfer des Faschismus“ wehte 1948 die israelische Flagge zwischen den Säulen des Alten Museums, kurz bevor Stalin sich gegen den jüdischen Staat wandte. Bald darauf siedelte die Mehrzahl der jüdischen Gemeinde in den Westteil Berlins über.

Es ist also nicht nur eine, in der Schilderung der individuellen Schicksale ergreifende Ausstellung zu einem Kurz-Kapitel des 20. Jahrhunderts, sondern zugleich ein Ausblick auf die weltpolitischen Vorgänge, in die das Schicksal der jüdischen „Displaced Persons“ eingewoben war. Nun kommen erneut Flüchtlinge, die ihrer Heimat verlustig gegangen sind, nach Berlin, werden hier betreut und gehen von hier aus womöglich weiter. Geschichte findet sich nie nur in der Rückschau, sie ist zugleich das, was sich in der Gegenwart ereignet.