Glamouröse Unscheinbarkeit
Mit der Farbe Grau, also alles zwischen Schwarz und Weiß, je nach Mischungsverhältnis, mit dieser Farbe assoziiert man in der Regel wenn nicht gleich grundsätzlich Negatives, so doch in jedem Fall wenig Erstrebenswertes. Wer will schon, im metaphorischen Sinn, eine „graue Maus“ sein – im Freundeskreis, bei der Arbeit, in der Fußball-Bundesliga, wo auch immer?
Wer will schon ein Graubrotgesicht haben, als graue Gestalt bezeichnet oder mit zunehmendem Alter ständig auf das Grau in den Haaren angesprochen werden? Wer will ständig in einen grauenBerliner Himmel schauen müssen oder von grauen Gedanken geplagt werden?
Kaum ein Trost ist es dabei, dass das Grau gerade für die Künste, insbesondere die Malerei, eine große Herausforderung darstellt und seine ganz eigene Funktion hat. Wie schrieb es Gerhard Richter 1975, nachdem er seine „Grauen Bilder“ gemalt und festgestellt hatte, dass die Farbe Grau „keine Aussage“ habe, weder sichtbar noch unsichtbar sei: „Die Unscheinbarkeit macht es so geeignet, zu vermitteln, zu veranschaulichen, und zwar in geradezu illusorischer Weise gleich einem Foto. Und es ist wie keine andere Farbe geeignet, ,nichts‘ zu veranschaulichen.“
Dass man das Grau in seiner ganzen Unscheinbarkeit und Indifferenz, seinem Nichtweiß und Nichtschwarz, seiner Position zwischen Hell und Dunkel anders sehen, behandeln und mitunter positiv konnotieren kann, demonstriert Peter Sloterdijk mit seinem neuen Buch, einer „Farbenlehre“, die den Titel „Wer noch kein Grau gedacht“ trägt. (Suhrkamp, Berlin 2022. 286 S., 28 €.)
Maßgeblicher Farbwert der Gegenwart
Sloterdijk arbeitet darin die Vielseitigkeit und Vielgestaltigkeit dieser Farbe heraus, ausgehend von einem Ausspruch eines anderen Malers, Paul Cézanne, der Ende des 19. Jahrhunderts im Gespräch mit Joachim Gasquet einmal gesagt hat: „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler.“
Als kompletter Philosoph will sich Peter Sloterdijk demnach erst sehen, wenn er das Grau „gedacht“, es „als maßgeblichen Farbwert der Gegenwart“ analysiert hat. Das darf man als kleine Übertreibung verstehen, ist doch Sloterdijk von seinem Freund Hans Ulrich Gumbrecht lange vor seinen Grau-Erkundungen schon als „wichtigster Philosoph Europas“ gefeiert worden. Keinesfalls sollte der gleichermaßen spielerische wie meditative Charakter des Ganzen unterschätzt werden.
Sloterdijk begibt sich also denkend und sein Sujet metaphorisch weit auffächernd in die Grauzonen nicht nur der Philosophie, sondern auch der Politik, der Fotografie, der Literatur und des Christentums.
Mit Platons Höhlengleichnis und den grauen Wänden in der Höhle geht es los, mit den Schatten, die Platon auf „zweieinhalb Jahr alteuropäischen Denkens“ geworfen hat, wie Sloterdijk witzelt.
Es folgt das Grau als Leistungsfarbe der Philosophie bei Hegel, Heidegger als wichtigster Interpret der Grautöne und später Nietzsche, der das Grau der Felsen und Steine als geistige Befreiung empfand und philosophisch zum Sprechen brachte.
Seinen Fachbereich verlässt Sloterdijk jedoch geschwind, um sich ganz wunderbar und mit sichtbarem, sich jederzeit mitteilendem Vergnügen wort- und erfindungsreich in andere Sphären zu begeben, zunächst der Politik. In dieser heißt es, das Grau vom Rot aus zu denken: dem revolutionären Rot der Jakobiner, dem des Stalinismus und der realsozialistischen Staatsexperimente, dem der Sozialdemokratie.
Es ist dies ein Rot, das sich im Verlauf der Geschichte immer mehr eingräute: „Das alles erfassende Grau wurde zu der endogen erzeugten Konfession eines Unternehmens, das in Tiefrot begonnen hatte.“
Gewährsleute dafür sind zum Beispiel der Erfurter Journalist Sergej Locht hofen, der seine DDR-Lebensgeschichte mit dem Titel „Grau“ versah und schrieb: „Graue Autos. Graue Kaufhallenregale. Das Grau der Zirkulare und Parteitagsbeschlüsse (…) Grau in allen Schattierungen. Als sei jede andere Farbe mit Schimmel überzogen. Graue Menschen in einem grauen Land.“
Oder der Berliner Dichter und Georg-Büchner-Preisträger Durs Grünbein, aus dessen früher Gedichtsammlung „Grauzone morgens“ Sloterdijk auf zwei Seiten ein ganzes Gedicht mit „Reflexen spezifischer DDR-Farbigkeit“ zitiert.
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Doch ist das Grau kein Alleinstellungsmerkmal der DDR gewesen: Das London der siebziger Jahre war ein einziges Grauen, wie sich der britische Schriftsteller John Lancaster in seinem Buch „Kapital“ erinnert, und auch in der Bundesrepublik ist ganz und gar nicht alles bunt gewesen, was kapitalistisch glänzte: von den schwarzen, überdies noch braun eingefärbten Tagen der Adenauer-Ära bis hin zum Grau der Merkel-Republik.
In dieser gelang der Bundeskanzlerin das „Kunststück“, so Sloterdijk „zugleich lau und machtbesessen zu sein“. Einen kleinen Ausblick wagt er in diesem Zusammenhang hinsichtlich der Ampelkoalition, insbesondere der erneuten Regierungsverantwortung der Grünen: „Dass Graugrünes oder Grüngraues am Horizont steht, ist ohne Mithilfe prophetischer Drogen vorhersehbar. Die Zukunft gehört (…) einer ökobürokratischen Verordnungspolitik, die dem so unterkompetenten wie überanspruchten Staat den Weg in seine postdemokratischen Wechseljahre vorschreibt.“
Das ist der Weg zur Macht, die kein Bunt verträgt, für Sloterdijk aber ein Zeichen funktionierender Demokratien: Wer Mehrheiten suchen und Kompromisse eingehen muss, kann sich gegen eine Vergrauung kaum wehren und die Reinheit seiner parteipolitischen Farbe erhalten.
Ausgeweitete Indifferenzzonen
Charakteristisch für diese unterhaltsame Farbenlehre, wie sowieso für Peter Sloterdijks Schreiben und Denken, ist die Abschweifung. Umwege erhöhen hier immer die Farbkenntnis.
Die „Digression“ gehört zum Ordnungsprinzip dieses Buches. Zwischen jedes der großen Kapital ist ein kleines zwischengeschaltet, beginnend mit Kafka, dessen Helden und ihren Gängen „im trübgrauen Behördenlicht durch lange Korridore“ bis hin zur Erklärung des Cézanne-Diktums.
Aber auch die „grauen Ekstasen“, das Durchstreifen der grauen Mystik und grauen Ethik, der grauen Ästhetik und grauen Theologie ist durchsetzt von nicht immer stringenten Erkundungen. Da ist von der Neigung liberalisierter sozialer Universen, „sich in chinesische Speisekarten zu verwandeln“, genauso die Rede wie von den über hundert Grautönen, die Mercedes für seine Autos im Angebot hat, vom Zusammenhang zwischen Opium und Kapital genauso wie von der „Ästhetik des Hässlichen“ am Beispiel des Eiffelturms.
Doch ist die Non-Stringenz gewissermaßen stoffimmanent. Bei dieser Farbenlehre geht es nun einmal ausdrücklich um die Betrachtung „ausgeweiteter Indifferenzzonen“, um das Grau als Symbol der Indifferenz. Schön ist, dass Sloterdijk einerseits immer mal wieder witzig ist, er trotz seines Gegenwartsanspruchs gar nicht so viele Ausflüge in die selbige unternimmt.
Er erwähnt kurz die „passiv-aggressiven Spielarten des Feminismus“ oder „die juvenile Woke-Ideologie“, um zu zeigen, dass das jakobinische Rot trotz allen Graus noch nicht ausgedient hat (und um natürlich auch zu zeigen, dass er davon nicht viel hält).
Gott und die Literatur
Oder er straft, abermals weit weg vom Grau, die sozialen Medien und ihre Mechanismen ab: „Das Liken erweist sich, ein halbes Jahrhundert nach Warhol, zweitausend Jahre nach dem Daumenurteil der römischen Arena, als die überall verstandene Geste indifferenter Zustimmung zum irgendwie nicht sehr Guten.“
Viel spricht der Philosoph von Gott, von Gottes Allmacht, dessen Allwissenheit.Gleich fünf Antworten versucht er darauf zu geben, warum das Jüngste Gericht immer noch nicht eingetreten ist, womöglich nie eintreten wird.
Noch mehr aber als bei Gott und beim Christentum ist er in der Literatur fündig geworden: in Philippe Claudels Roman „Die grauen Seelen“, für ihn die Initiation, in Cormac McCarthys apokalyptischem Roman „Die Straße“, in den Schneestürmen bei Puschkin, Vladimir Sorokin oder Thomas Mann, in Adalbert Stifters autobiografischem Depressionsbericht „Aus dem Bairischen Walde“.
Wie schön das Grau sein, wie zärtlich man es betrachten kann, das demonstriert Sloterdijk mit Theodor Storms Gedicht „Die Stadt“, einer Ode auf dessen graue Heimatstadt Husum.
Es überwiegt nicht zuletzt wegen Fundstücken wie diesem der Eindruck, dass für Peter Sloterdijk das Indifferente, Mittelmäßige, Gemäßigte, Vermittelnde, ja, die phasenweise Lauheit des Grau viel Gutes hat. Grauzonenkunde, so postuliert er, sei eine Form von Lebenskunst. Am Ende der Lektüre fühlt man sich bereichert, mitunter beglückt. Wie glamourös sich das Grau denken lässt, wie viel Silber darin steckt! Nur dann überall in der Welt grausehen, das will man doch lieber nicht.