Ein Familienidyll aus Vater, Mutter, Lamm

Irgendetwas befindet sich da draußen. Nur was? Die klasse Eingangssequenz von „Lamb“ setzt den bedrohlichen Unterton des poetischen Horrormärchens, das zeitweilig wie die naturalistische Schilderung des Schafzüchterlebens im Norden Islands anmutet. Schwer geht der Atem der Kreatur, die durch das Schneetreiben auf eine im weißgrauen Nichts sichtbar werdende Herde zu stapft. Die subjektive Kamera blickt auf sie herab. Schafe? Nein, Islandponys. Erschreckt stieben sie davon. Das Wesen muss stattlich sein.

Ebenso alarmiert reagieren die Schafe des in der Ferne auftauchenden Bauernhofs. Der Stall ist in schwefelgelbes Licht getaucht. Gebannt starren sie hinaus, als sich die Tür öffnet. In der Schwärze der Winternacht dräut die unbekannte Macht. Als ein trächtiges Schaf aus der Herde umfällt, läuten im Dom zu Reykjavik die Glocken zur Christmette. Drinnen im Bauernhaus, wo die Radioübertragung läuft, schaut Maria ahnungsvoll zum Fenster hinaus, bevor sie den Lammbraten auftischt.

Die Ehe steht unter dem Schatten des Verlusts

Blicke sind essentiell in Valdimar Jóhannssons Spielfilmdebüt, das in Cannes zu recht für seine Originalität ausgezeichnet wurde und jüngst auch den Europäischen Filmpreis für die besten visuellen Effekte erhielt. Blicke erzählen das weitgehend wortlose Drama von Maria (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snaer Gudnason), deren Ehe unter dem Schatten eines Verlustes steht.

Genauso ausdrucksvoll wie die Nahaufnahmen der Menschengesichter, insbesondere der heißkalten Blicke der schönen Maria, gestaltet Kameramann Eli Arenson die der Tiere. Die sensitive Kamera ist auf Augenhöhe mit den Schafen und spinnt in ruhigen Bildern ein Netz aus unsichtbaren Fäden. Zum witternden Hofhund, zur spähenden Katze, die mehr als Menschen zu bemerken scheinen.

Nur Trecker, Radio und Auto erinnern an die Zivilisation

Ingvar und Maria, die stoisch ihr Tagwerk erledigen, leben am Ende der Welt. Nur Trecker, Radio und Auto erinnern an die Zivilisation. In den Totalen sind Frau und Mann samt ihrer Behausung mächtigen Bergmassiven untertan. Es ist eine majestätische, in monochrome Farben getauchte Landschaft, die die irritierende Frage stellt: Wer gebietet hier? Sind es wirklich die Menschen? Dass Schafe es faustdick hinter den Ohren haben können, ist Kinogängerinnen seit „Schweinchen Babe“ und „Shaun, das Schaf“ bekannt. Diese atmosphärisch dichte Mystery-Erzählung erweitert den Kanon ulkiger Filmschafe um ein neues Motiv: dem des Wolltibordeers als tragischer Figur.

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Das Verhältnis von Mensch und Natur und die Natur des Menschen, beides lotet „Lamb“ aus, als die Maria und Ingvar verstörende Frucht der Heiligen Nacht in der Lammzeit geboren wird. Als göttliches Geschenk, wie es die Anleihe an die christliche Ikonografie nahelegt, in der Jesus als Lamm Gottes fungiert? „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünden der Welt, erbarm dich unser“, heißt es im Agnus Dei der Abendmahlsliturgie. Besonders die weißwolligen Tiere gelten als reine Kreaturen, als sprichwörtliche Unschuldslämmer.

So eindeutig fällt die Kinds-, äh, die Lammgeburt aber nicht aus. Denn was einem verwaisten Elternpaar als Geschenk erscheint, kann unversehens zum Fluch werden. Erst einmal für die Tiermutter, die nicht nachlässt, anklagend und sehnsuchtsvoll nach ihrem Nachwuchs zu blöken, den Maria ohne Rücksicht auf ihre Gefühle aus dem Stall in die Stube überführt.

Inspiriert von isländischen Volkssagen

Das Mutterschaf und Pétur (Björn Hlynur Haraldsson), Ingvars ungebeten hereinschneiender Taugenichts von Bruder, sind fortan die Störenfriede im zärtlichen Familienidyll aus Mutter, Vater und Lamm. Absolut bezwingend ist die Selbstverständlichkeit, mit der Valdimar Jóhannsson die technisch super umgesetzte Inszenierung des Mischwesen gestaltet. Abbilder von halb menschlichen, halb tierischen Chimären wie Centauren und Sphinxen sind so alt die die Kultur. Immer erzählen sie vom Wirken übersinnlicher Kräfte. In „Lamb“ wird aus dem schweren mythologischen Pfund ein witziges Wesen, dessen seelenvoller Blick das Kleinkindverhalten kontrastiert.

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Die isländischen Volkssagen, die den Regisseur zu „Lamb“ inspiriert haben, sprechen vom Animismus der Nordeuropäer, der sich 2019 auch in der Geschlechtergrenzen sprengenden Troll-Fabel „Border“ des Schweden Ali Abbasis niederschlug. „Lamb“ spielt in derselben Liga subtiler Schauermystik, jedoch ohne ähnlich klare Botschaft. Das schadet angesichts der Sinfonie aus graublauen Innenräumen, gelbbraunem Stall, weißgraugrüner Landschaft und zentral kadrierten Einstellungen nicht.

Auch an Suspense fehlt es nicht: punktuell eingesetzte Sounds, bewusste Auslassungen und eine Kamera, die die Eingangssubjektive nachahmend, immer wieder von hinten nah an allzu schutzlose Rücken heranfährt. Der allgegenwärtige Nebel verbirgt Menschen wie Monster. „Lamb“ macht es schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden.