Am Katzentisch der kulturellen Öffentlichkeit
So ist das in Zeiten der Pandemie, da ein Wettbewerb wie das Ingeborg-Bachmann-Lesen zu einer Mischung aus analoger und digitaler Veranstaltung mutiert ist: Die sogenannte Klagenfurter Rede zur Literatur, mit der der Wettbewerb traditionell an einem Mittwochabend beginnt, wird nicht in Klagenfurt gehalten.
Sondern wie vergangenes Jahr im Berliner LCB (von Sharon Dodua Otoo) oder wie jetzt im Düsseldorfer Literaturhaus, das der Literaturkritiker Hubert Winkels gewählt hat, um seine Rede zu halten. Winkels saß selbst elf Jahre in der Jury beim Bachmannpreis, die letzten fünf davon war er ihr Vorsitzender. Insofern liegt es fast nahe, dass seine Rede mehr noch als von der Literatur von der Literaturkritik handelt, von ihrer „Kreativitätskompetenz“, die sich, so Winkels, „aus ihrer innigen Vertrautheit mit dem narrativen Gewebe der Welt“ ergebe.
Winkels hält einerseits, klar, eine Lobrede auf die Kritik, wie sie sich emanzipiert hat vom Großkritikertum früherer Zeiten, wie sie es eigentlich nicht nötig haben sollte, Daumen einfach nur zu heben oder zu senken: umso differenzierter die Betrachtung eines Kunstwerks, desto besser.
Beargwöhnte Kritik
Und er erläutert andererseits, im Grunde genauso klar, wie sehr die Kritik, ihre Formate, ihre Freiheit, ihre Arbeitsmethode, unter Druck geraten sind, ihr Raum in den einschlägigen Medien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen immer kleiner geworden ist oder neue Zuschnitte erfährt.
In Winkels Worten: „Die Berührung mit dem anderen, mit der fremd gewordenen Textur der Welt, die durch die Kunst hindurch möglich wird, im Glücksfall infektiös für den Betrachter und deshalb im Feuilleton exemplarisch erlebbar in der Arbeit des Kritikers, ist im klassischen Informationsverabeitungsprozess der Zeitung und des Hörfunks nicht mehr gefragt, sondern beargwöhnt; vom Fernsehen ganz zu schweigen, wo die Separierung der Kunst von der kulturell interessierten Öffentlichkeit ungleich weiter fortgeschritten ist.“
Kunstreligiös? Kulturpessimistisch?
Winkels streift dann mit Habermas die durch die sozialen Medien stark veränderte politische Diskurskultur und argumentiert mit diesem mit der „intrinsischen Autorität von Werken der Kunst und Literatur“, mit der „unangetasteten Autorität von zeitgenössisch anerkannten Schriftstellern“, mit der „ins Dingliche ragenden Schönheit der Gestalt der Sprache selbst“.
Ist das jetzt kunstreligiös? Sind das die Wunschträume eines Kritikers, der sich inzwischen an „den Katzentisch der kulturellen Öffentlichkeit“ versetzt sieht?
Beides davon steckt sicher in Winkels Rede. Doch es ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund der zunehmend „dienenden Funktion“ der Kritik dem Publikum gegenüber, „den banalisierenden Tendenzen in Darstellung und Berichterstattung von Kultur im Radio“, der Inflation von politischen Debatten- und gesellschaftlichen Querschnittsfeuilletons.
Gesellschaftliche Allzuständigkeit
Man mag einiges von dem, was Winkels sagt, sofort unterschreiben, gerade als Literaturmedienarbeiter – auch wenn die Klarheit im Ausdruck der Rede manchmal zu wünschen übrig lässt, Winkels zu Schlangensätzen und einer gewissen intellektuellen Gespreiztheit neigt und Begriffe wie „aprotopäische Reaktion“ verwendet. Doch nehmt dies, Medienverantwortliche!
Trotz kulturpessimistischer Einsprengsel feiert Winkels am Ende noch einmal schön die Literaturkritik, ihren subversiven Charakter, ihre „gesellschaftliche Allzuständigkeit“ und damit verbunden auch ihre „attraktive Für-Nichtszuständigkeit“.
Dass der sich daran anschließende, etwas unverbunden herumstehende Nachsatz eine Provokation ist, darf man mutmaßen: „Kein Grund für Identitäten.“
Vier Tage Text und Kritik live im Fernsehen und im Netz, das jedenfalls ist dann doch mehr als der Katzentisch.