Tom Schilling ist der Prototyp eines neuen Mannes
Flapp, flapp, flapp. Tom Schilling stürmt durch eine Tür und hastet in Sandalen über den Flur. Der müsste doch jetzt im Interview sitzen. Das geht bei den Pressetagen eines Wettbewerbsfilm wie „Fabian“ auf der Berlinale sonst Schlag auf Schlag. In mehreren Sälen reden Hauptdarstellerinnen und Regisseur parallel in Mikrofone und Kameras. Ein sorgfältig arrangiertes Spiel der Aufmerksamkeit.
Und verirrt sich mal ein Star, sind die Agentinnen nicht weit. Herr Schilling, was machen Sie in freier Wildbahn?, entfährt es einem da verblüfft. Er eilt vorbei. „Sind wir gleich verabredet?“, wirft er zurück. In zwanzig Minuten, um genau zu sein.
Was wäre hier normalerweise für ein Geschwirr. Doch in der Pandemie liegen Tourismus und Konferenzen brach. Das Hotel unweit des Kurfürstendamms gleicht einem Geisterhaus. Ein einsamer Rezeptionist bewacht die Lobby. Auf der Suche nach dem richtigen Konferenzsaal ist keine Seele zu sehen. Promis treffen im Gespensterhotel, schöner Stoff für ein Splattermovie. Doch statt gruseliger Gestalten tauchen eine Ecke weiter dann doch Agentinnen auf und alles nimmt den üblichen Lauf.
Tür auf, ein weiter Raum, ein großer Tisch, der zierliche Schilling. Blauer Blick, blaues Hemd. Die trägt er auf der Berlinale gleich durch zwei Werke und Zeiten. In Dominik Grafs furioser Verfilmung von Erich Kästners Roman „Fabian oder der Gang vor die Hunde“. Und in David Schalkos sechsteiliger Serie „Ich und die Anderen“, die ebenfalls auf dem Festival uraufgeführt wird.
Schilling lässt sich durch brüchige Welten treiben. Durch das Berlin des Jahres 1931, in dem die Boheme der Weimarer Republik wie toll dem Nationalsozialismus entgegentaumelt. Und durch ein Wien, beziehungsweise eine nicht konkret verortete, deutschsprachige Stadt der nahen Zukunft, in der eine künstliche Intelligenz namens „Bobbie“ per Ohrstecker Yuppies durch ihr Plastikleben manövriert.
Bei Graf spielt Tom Schilling den Werbetexter und Flaneur Fabian, der viel Glück und noch mehr Pech mit den Frauen hat. Bei Schalko einen Millennial namens Tristan, der in einer Firma-für-was-auch-immer Kunden die Vorzüge einer App anpreist und endlose Beziehungsgespräche führt. Zweimal gibt er den feingliedrigen Mann mit dem melancholischen Blick.
Den Charakter, der als verwirrter Beobachter des eigenen Geschicks, fordernder Liebesverhältnisse und einer aus dem Ruder laufenden Zivilisation fungiert. Mit haarloser Brust und androgyner Ausstrahlung. Womöglich als Prototyp eines neuen, weniger testosterongesteuerten Mannes, dem die jungenhafte Aura trotz seiner 39 Lebensjahre erhalten bleibt. Kurz gefragt, Herr Schilling, ist das jetzt Ihre Zeit?
Das täusche, winkt der in Ost-Berlin geborene Schauspieler ab, der schon als Kind kleine Rollen spielte. In Filmen und am Berliner Ensemble. Er sei kein besonders arbeitsamer Darsteller und drehe nie mehr als anderthalb Filme im Jahr. Wenn dann zufällig zwei Produktionen zugleich herauskämen, entstehe der Eindruck von Omnipräsenz. „Das ist mir bei ,Oh Boy‘ und ,Unsere Mütter, unsere Väter‘ genauso gegangen und auch gar nicht schlecht, weil man dann in sehr unterschiedlichen Projekten zu sehen ist.“
Davon finden sich etliche in der Biografie des am Lee Strasberg Institute in New York ausgebildeten Tom Schilling. Werk ohne Autor. Stasikomödie. Mein Kampf. Napola. Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe. Woyzeck. Tod den Hippies. Es lebe der Punk. Um nur einige Filme zu nennen. Der Durchbruch gelang ihm im Jahr 2000 mit „Crazy“.
Tom Schilling sieht sich als Medium
Seit „Oh Boy“ (2012), Jan Ole Gersters mit Jazz und Vergeblichkeit grundierter Tragikomödie in Schwarz-Weiß, gilt Tom Schilling als Idealbesetzung des Berliner Slackers und Drifters, der ebenso unfertig ist wie die von ihm als Beobachter durchmessene Stadt. Die Seelenverwandtschaft zwischen Niko Fischer aus „Oh Boy“ und Dominik Grafs Jakob Fabian, der erst den Job und dann die Freundin verliert und mit dem Großstadttalmi fremdelt, ist offensichtlich. Die zum Serienhelden Tristan in der unwirklichen Diskurs-Satire „Ich und die Anderen“ nur eine Ecke weit entfernt.
Latte-Trinker Tristan, der mit Freundin Julia (Katharina Schüttler) gerade eine Familie gründet und von Bindungsängsten geplagt wird, findet sich eines Tages in einer rätselhaften Matrix wieder, wo Stoßseufzer wie „alle sollen die Wahrheit sprechen, alle sollen mich lieben“ real werden und wüste Konsequenzen zeitigen. Auch Tristan ist ein Zögerer, kein Zupacker, der die Welt distanziert betrachtet. Eine Haltung, die Tom Schilling sympathisch ist?
Er schüttelt den Kopf. Das schauspielerische Profil habe allein mit den Regisseuren zu tun. Er könne eine bestimmte Art von Rollen gut verkörpern, glaubt Tom Schilling. „Nämlich die, die viel Platz für Gedanken und Assoziationen lassen. Ich bringe als Schauspieler nicht so sehr mein eigenes Ich mit, sondern sehe mich eher als Medium, als Hülle.“ Das prädestiniere ihn für Filme wie „Fabian“ oder eine Serie wie „Ich und die Anderen“, weil sie viel über den Autor erzählten oder sogar eine literarische Vorlage transportierten.
Halt mal. Sagt da gerade dieser nette Familienvater, der beim Antworten nachfragt: „Soll ich durchgendern oder wie machst du das in deinen Texten?“, dass er sich als ideale Projektionsfläche von Regisseursfantasien sieht? Das wäre wahres Schauspieler-Understatement. Doch Schilling erklärt das folgendermaßen: „Ich bin Freund einer innerlichen Darstellung, eines Hypernaturalismus.“ Er grimassiere nicht, denke sich keinen speziellen Gang für einen Charakter aus.
„Mich interessiert, was die Figur denkt, weil ich der Überzeugung bin, dass sich im Kino Gedanken gut in der Nahaufnahme transportieren.“ Die Augenarbeit zählt. Christian Petzold hat immerhin mehrere Filme mit langen Einstellungen des seelenvollen Gesichts von Nina Hoss gefüllt.
Er gesteht sich Selbstzweifel zu
Bei ironischen Sittengemälden aus Umbruchzeiten, wie sie Kästner und Schalko liefern, darf die Miene dann mit steigender Anspannung auch orientierungsloser werden. Und der Fabian hat Schilling durchaus verwirrt. Besonders der Begriff Anständigkeit, den der Romanheld dauernd im Munde führt, obwohl er sich als Voyeur des Nachtlebens durch Bars und Betten treiben lässt. Diese in Schillings Augen „fast schon bigotte Widersprüchlichkeit“ habe der Figur Reibung verliehen, aber auch ihren Preis gefordert.
„Ich wäre gern ein Schauspieler, der ohne Selbstzweifel mit Wagemut, Risikobereitschaft und Humor in Dreharbeiten geht. Doch je länger meine Laufbahn dauert, desto schwerer wird es, sich nicht zu wiederholen, sich nicht mit sich selbst zu langweilen.“ So spricht der neue Mann, der sich Zweifel und Ängste gestattet.
Ein Gegenmittel gegen den Selbstüberdruss des Schauspielers hat Schilling in der Musik gefunden, die er mit seiner Band The Jazz Kids macht. Gerade arbeitet er am Nachfolger der Albums „Vilnius“, das 2017 herauskam. Im Winter sollen die neuen Songs erscheinen. Die Filmerei liegt dafür auf Eis.
Die Tür springt auf. Die Zeit ist um. Kurzer Abschied von Star und Tross. Wo war noch mal der Fahrstuhl? Flapp, flapp, flapp, tönt es plötzlich. Sollte das etwa …? Richtig, Tom Schilling hetzt über den Gang. Öffnet eine Tür, weicht zurück, war wohl die falsche, läuft weiter. Ein schmaler Mann in blauem Hemd allein in einem langen Flur.