Was vom 13. August geblieben ist: Ein Anfang mitten in der Geschichte
Der Bau der Mauer quer durch Berlin am 13. August 1961 besitzt heute kaum noch die mahnende Bedeutung wie früher. Die Erinnerung an die etwa 140 unmittelbaren Toten an der Mauer verblasst mit den Nachwendeerfahrungen und wird von den vielfältigen Krisen der jüngsten Zeit weiter überlagert.
Ob als Berlinerin oder als Zugezogener, wer in Berlin viel in der Stadt unterwegs ist und regelmäßig über den ehemaligen Mauerstreifen fährt, erkennt das Berlin von 1961 bis 1990 kaum wieder. Gesichtslose Immobilienprojekte stehen dort, wo der Todesstreifen nicht nur die Berliner Bevölkerung jahrzehntelang mit Wut, Angst und Trauer erfüllte.
Anti-faschistischer Schutzwall, die Mauer in den Köpfen
Und trotz der schwindenden Erinnerung und der Überlagerung durch neue Probleme blicken wir auf Monate zurück, in denen die DDR oder ihr imaginärer Nachfolger, „der Osten“, diskursiv präsent war wie selten seit der Wiedervereinigung. Der anti-faschistische Schutzwall mag der Vergangenheit angehören, die Mauer in den Köpfen ist keineswegs verschwunden.
Darauf aufmerksam zu machen ist das Verdienst einer Reihe ostdeutscher Autorinnen und Autoren, die darauf insistieren, die Deutung der Verhältnisse in Ostdeutschland nicht allein einer politischen Öffentlichkeit zu überlassen, die in weiten Teilen von Westdeutschen dominiert ist.
Dazu gehören nicht nur die gegenwärtig viel diskutierten Bücher von Dirk Oschmann („Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“) und Katja Hoyer („Diesseits der Mauer“), sondern auch die bereits seit einigen Jahren ähnlich argumentierenden Publikationen etwa von Steffen Mau („Lütten Klein“) oder besonders vielschichtig von Jan Wenzel („Das Jahr 1990 freilegen“).
Die BRD wurde wiederaufgebaut, die DDR geschröpft
Sie alle legen in ihren Büchern einen Schwerpunkt nicht nur auf den Unterdrückungsapparat, sondern darüber hinaus auf die gesellschaftlich vielfältigen Eigenarten der DDR. Eine wichtige Rolle spielen dabei die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg. Westdeutschland und die Westdeutschen erhielten massive Hilfe von den Westalliierten. Dabei störten auch ehemalige Nazis in Justiz, Verwaltung und den Leitungsetagen der Wirtschaft nicht.
57,8
Prozent der Ostdeutschen empfinden sich noch als Bürger der DDR, Umfrage Universität Leipzig im Juni 2023
Die DDR dagegen wurde von der Sowjetunion mit immer neuen Belastungen versehen, von immensen Reparationszahlungen über die Zwangsmigration von Fachkräften bis hin zum Entsenden von Panzern am 17. Juni 1953 oder eben die (durchaus willkommene) Anweisung zum Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 – heute vor 62 Jahren.
Das Bewusstsein allerdings, dass es für die gesamtdeutsche Aufgabe des Wiederaufbaus radikal unterschiedliche Ausgangsbedingungen gab, ist heute überwiegend in Ostdeutschland präsent. Es geht einher mit der verstörenden Erfahrung, dass zwei bis drei Generationen von Vermögensaufbau in Westdeutschland die Einkommensunterschiede bis heute prägen. Erben in Westdeutschland erhalten im Durchschnitt doppelt so hohe Erbschaften wie Erben in Ostdeutschland.
Die Spuren der Teilung am heutigen Mauerstreifen
Die besonders hohen Erbschaften wiederum fußen überdurchschnittlich häufig auf Generationenvermögen, sind also an die Nachkriegszeit, mitunter an die Zeit davor, und natürlich auch an die Nachwendezeit geknüpft, als viele Westdeutsche, aber wenige Ostdeutsche rückenteignet wurden.
Auch am heutigen Mauerstreifen lässt sich der Sachverhalt beobachten. Nur an wenigen Stellen sonst gab es nach der Einheit ein so großes Potenzial, zukunftsoffene Formen des Städtebaus zu verwirklichen. Die Ostberliner Bevölkerung jedenfalls hatte bei der Neugestaltung des Mauerareals wenig zu sagen. Die Bezirke wurden grenzübergreifend neugestaltet – eine gute Gelegenheit für den Westberliner Bausumpf, sich nach Osten auszudehnen.
Und so sieht es heute etwa an der Bernauer Straße, an der Heinrich-Heine-Straße oder nördlich der Charité auch aus. Die Ballung an staatlich geförderter Gentrifizierung ist so offensichtlich, dass die grenznahen Plattenbauviertel – zum Beispiel rund um Alexanderplatz, Leipziger Straße und Ostbahnhof – einen fast wohltuenden Kontrast entfalten. Sie stehen heute für eine Zeit, in der das Wohnen im Zentrum noch kein Privileg einer vermögenden, mobilen und gebildeten Elite war.
Von den Ostdeutschen wird noch Dankbarkeit erwartet
Es ist das gute Recht von Oschmann und Hoyer, auf die bis heute andauernde Ungleichheit zwischen West- und Ostdeutschland hinzuweisen. Dass Oschmann dafür einen strategisch gewählten polemischen Ton anschlägt, hat den Diskurs zumindest in die deutsch-deutschen Debattenräume Einzug halten lassen. Denn dass herablassende Haltungen gegenüber dem gemeinen Osten weiterhin weit verbreitet sind, zeigt sich an den mitunter maßlosen Tiraden, die sich gegen Oschmann und Hoyer richten.
Sie können durchaus als Belege dafür gelesen werden, was in beiden Büchern verargumentiert wird: Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wird von Ostdeutschen eine pauschale Attitüde der Dankbarkeit erwartet, und zwar ganz gleich, wie problematisch die politischen und sozialen Bedingungen besonders in den strukturschwachen Gegenden Sachsens, Thüringens oder in Brandenburg auch sein mögen.
Wer gegen die unausgesprochene Verhaltensregel verstößt, sich demütig und dankbar zu geben, wird sogleich und auf breiter Front mit dem Verdacht der Diktaturverharmlosung belegt. Wenn Ostdeutsche nur die Wahl zwischen Duckmäusertum und offenem Protest haben, ergeben sich langfristige Schäden für das Zusammenleben.
Wir fragen uns: Müssen die Debatten zwischen Ost- und Westdeutschland wirklich weiterhin mit Prämissen fortgeführt werden, bei denen die Herkunft derart den Blick vernebelt? Westdeutsche für die Demokratie, Ostdeutsche für radikale Parteien und Putin? Uns kommt das, mit Verlaub, klischeehaft vor.
Missverständnisse im gesamtdeutschen Dialog
Schließlich zeigen Umfragen seit Langem, dass der Hang zu undemokratischen Positionen in Teilen Baden-Württembergs ähnlich verbreitet ist wie in Teilen von Sachsen (um nur zwei Beispiele zu nennen). Auch die Präsenz von Westdeutschen in der zunehmend rechtsextremen AfD kann sich sehen lassen.
Aus unserer Sicht wird viel zu selten gewagt, aus den innerdeutschen Asymmetrien und Missverständnissen Dialoge zu entwickeln. Dass Herkunft oft genug zu Unterschieden im Denken, Lebenswandel und Geldbeutel führt, ist offensichtlich. Warum können daraus nicht Handlungsoptionen für langfristige gemeinsame Zukunft abgeleitet werden? Schließlich ist es der Umgang mit der eigenen Diversität sowie deren Diskrepanzen und Ambivalenzen, der den Fortbestand und die Wehrhaftigkeit der Demokratie bestimmt.
Deswegen kommen uns, wenn wir heute die Pflastersteine am ehemaligen Mauerverlauf überqueren, trotz allem weniger die deutsch-deutschen Verwerfungen in den Sinn. Stattdessen denken wir daran, wie bedrohlich die Mauer von beiden Seiten wahrgenommen wurde. Und wir empfinden, wenn auch vielleicht nur kurz, ein Gefühl der Befreiung und die Möglichkeit eines Anfangs im Inmitten der Geschichte.