Starpower auf dem Venedig Filmfestival : Anstrahlen gegen die Krisen der Gegenwart

Man hätte vermuten können, dass die Oscar-Verleihung im März am Selbstverständnis von Venedig-Leiter Alberto Barbera gerüttelt hat. Die Renaissance seines Filmfestivals hatte ja nicht zuletzt damit zu tun, dass es Barbera in den vergangenen zehn Jahren gelungen war, das Schaulaufen am Lido zum offiziellen Startschuss für die Award-Saison zu erklären.

An deren Ende werden traditionell die Goldjungen in Hollywood verteilt, mit besten Empfehlungen aus Venedig. Barbera, der Königsmacher. In diesem Jahr räumte allerdings Sean Bakers Palmen-Gewinner „Anora“ bei den Oscars ab, während Brady Corbets Monumentalwerk „The Brutalist“, in Venedig mit dem Regiepreis ausgezeichnet, mit nur drei Preisen, darunter für Hauptdarsteller Adrien Brody, den Kürzeren zog.

Das Filmfestival als Wirklichkeitssimulation. Noch herrscht vor dem Palazzo del Casino auf dem Lido trügerische Ruhe.

© AFP/Stefano Rellandini

Die Feststellung, dass Cannes und Venedig die wichtigen Filme des Jahres (mit leichten Ausschlägen ins Populäre) inzwischen fast vollkommen unter sich ausmachen, ist angesichts dieses Star-Aufgebots nicht untertrieben. Mit Roberts hat sich Barbera eine echte Sympathieträgerin gesichert, die auch den Status des Festivals als gesellschaftliches Ereignis unterstreicht.

Die Fans werden für sie vermutlich nicht vor dem Festivalpalast die Zelte aufschlagen wie bei den Auftritten von Harry Styles oder Lady Gaga; diese Bilder gehören zur Ikonografie des Lidos wie der Ausstieg der Stars aus dem Vaporetto.

Aber Roberts ist als Botschafterin einer Hollywood-Ära, in der das Glamour-Versprechen noch nicht mit einem schnellen Social-Media-Post besiegelt wurde, für das Image des Festivals unbezahlbar.

Dazu kommt, dass sie, Adam Sandler und Dwayne Johnson keine Festival-typischen Stars sind. Doch auch in der oberen Hollywood-Liga spürt man inzwischen, dass die interessanten Filmprojekte nicht mehr von den großen Studios finanziert werden.

Barbera hatte diesen Trend in Interviews mit den Branchenmagazinen ebenfalls angemerkt. In diesem Jahr ist kein Traditionsstudio in Venedig vertreten; Paul Thomas Andersons „One Battle after Another“ (Warner Bros.) mit Leonardo DiCaprio wird schmerzlich vermisst.

Die Streamer laufen den Studios den Rang ab

Filmfestivals sind immer auch verlässliche Seismografen für den Zustand der Branche. Und da lässt sich schon seit einer Weile beobachten, dass kleine Boutique-Studios wie A24 und Neon inzwischen den gehobenen Arthouse-Markt abdecken, während die Studios sich zunehmend auf das Geschäft mit Franchises konzentrieren. Und dann sind da natürlich noch die Streamer, die von Barbera mehr umhegt werden als in Cannes von Thierry Frémaux.

Oscar Isaac in „Frankenstein“ von Guillermo del Toro

© Ken Woroner / Netflix

Aber auch die Fiktionen sind politisch aufgeladener als üblich, im Fall von Kaouther Ben Hanias „The Voice of Hind Rajab“ sogar mit dokumentarischen Quellen. Der Film der tunesischen Regisseurin („Olfas Töchter“) basiert auf den Telefonaten der fünfjährigen Hind Rajab, die im Januar 2024 bei Angriffen der israelischen Armee auf Gaza-Stadt stundenlang im Auto ihres Onkels festsaß und später tot aus den Trümmern geborgen wurde.

Die humanitäre Katastrophe in Gaza lenkt die Aufmerksamkeit in der Bubble von Venedig auch auf die bescheidenen Mittel des Kinos. Der Schweizer Regisseur Nicolas Wadimoff macht das Beste draus und gibt in seinem Dokumentarfilm „Who Is Still Alive“ neun geflüchteten Palästinensern aus Gaza den Raum, ihre Geschichten zu erzählen.

Den Schwachen eine Stimme geben, ist in kritischen Zeiten wie diesen vielleicht die einzig sinnvolle Möglichkeit zu zeigen, warum das Kino weiterhin unverzichtbar ist. Alberto Barbera hat für diese Ausgabe schon die Rückkehr des „Kinos der Wirklichkeit“ ausgerufen. Natürlich ist der Anspruch, die Gegenwart erklären zu wollen, vermessen. Eher schon erinnert er an die Ohnmacht der Bilder. 

Mehr als eine kuriose Randnotiz, möglicherweise dem Ernst der Lage nicht ganz angemessen, ist auch der Auftritt von Jude Law als Wladimir Putin im Biopic „The Wizard of the Kremlin“ vom französischen Autorenfilmer Olivier Assayas. Die Programmierung im Wettbewerb kann man natürlich schon, wie Barbera nicht müde wird zu betonen, als politisches Statement verstehen.

Aber in einer Branche, in der die Stellungnahmen vom roten Teppich gewissen Routinen unterliegen, lässt eine solche Polit-Travestie tief blicken. Die Vorfreude auf Kontroversen – und Jude Law – gehört eben zum Geschäftsmodell. Schließlich machen heute nicht nur die Streamer, sondern macht vor allem die Wirklichkeit dem Kino Konkurrenz.