„Spider-Man: Across the Spider-Verse“ im Kino: Wo Quantenphysik und Pop Art sich verbinden
Das Multiversum ist dank seiner ewig erweiterbaren Ausfaltungen in Raum und Zeit nicht nur das erzählerische Erfolgsrezept im heutigen Franchisekino. Es ist auch zur popkulturellen Chiffre unserer Zeit geworden, für die Zersplitterung gesellschaftlicher Realitäten und den Wunsch nach einer höheren Kraft, die Ordnung und Einheit in unserem gegenwärtigen Chaos herstellt. Die Idee des Multiversums ist darum im Kern eher totalitär als anarchistisch: Am Ende wird immer die kosmische Ordnung bewahrt.
Wie viele Spider-Men passen in ein Universum?
Kein Zufall also, dass außerhalb des Marvel Cinematic Universe (MCU) die bisher wildeste und freie Umsetzung dieses erzählerischen Prinzips gelungen ist. Die Animationsfilme „Spider-Man: A New Universe“, der 2020 den Oscar erhielt, und das neue Sequel „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ um den afro-hispanischen „Spidey“ Miles Morales haben tatsächlich mehr mit den Comic-Heften, aus denen sie auch visuell ständig zitieren, zu tun als mit den zuletzt immer einfallsloseren Avengers-Abenteuern. Schon die Idee zu „Spider-Man: No Way Home“ von 2021 mit den drei Darstellern Tom Holland, Andrew Garfield und Tobey Maguire klaute Marvel bei „A New Universe“.
„Spider-Man: Across the Spider-Verse“ treibt die durchgeknallten Fabulierlust des Vorgängers – auch wenn das kaum noch möglich schien – auf die Spitze; er ist gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner von Quantenphysik und Pop Art. Die Bilder scheinen ständig gleichzeitig in Farbfontänen zu im- und explodieren, digitale Glitches erzeugen Interferenzen mit anderen Dimensionen, Portale öffnen sich unvorhergesehen in andere, fotorealistische Welten – in denen dann zum Beispiel ein Donald Glover herumsitzt.
Origineller als die Realfilme
Die Handlung ist ähnlich kompliziert geschichtet wie die Überlagerungen von verschiedenen Animationstechniken. Doch selbst als inzwischen Metaversum-geschulter Marvel-Kenner braucht man eine Weile, um die irren Volten nachzuvollziehen. Zum Glück dauert der Spaß allerdings auch 141 Minuten.
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Die Einführung von Miles Morales, der in den Comics 2014 den Job von Peter Parker übernahm, in das erweiterte Superhelden-Universum, war mehr als eine dem kulturellen Klima geschuldete Entscheidung
der Produzenten Phil Lord und Christopher Miller („Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen“, „Lego Movie“). Dass ihre bewusstseinserweiternde Imagination nicht Disney-kompatibel ist, war spätestens klar, als dem Duo 2017 die Regie von dem fast abgedrehten „Solo: A Star Wars Story“ entzogen wurde. Sie sprachen danach von einer „unüberwindlichen Kluft“ zwischen ihrer Vorstellung und der der „Star Wars“-Rechteinhaber bei Disney. Bei Sony, die immer noch die Rechte an der Marvel-Figur Spider-Man haben, zeigt man sich da deutlicher offener.
Miles hat es in „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ mit The Spot, einem Bösewicht im Kuhfellmuster, zu tun, der durch die schwarzen Flecken auf seiner Haut die Dimensionen wechseln kann – oder sich versehentlich auch schon mal selbst in den Hintern tritt. Ihm zur Seite steht wieder Spider-Woman Gwen Stacy plus eine inspirierte Truppe von Spinnenwesen, die „Spider Society“, die noch damit beschäftigt ist, die Kollateralschäden im Raum/Zeit-Kontinuum aus dem ersten Film zu beheben. Zu ihr gehören unter anderem die hochschwangere Jessica Drew, die kein Universum ohne ihr Motorrad bereist, der gitarrenbewehrte Spider-Punk (mit Cockney-Akzent) und ein Bollywood-Spider-Man, den sie in einem alternativen Mumbai auflesen.
Allein dieses handgezeichnete Comic-Mumbai wäre einen eigenen Film wert. Es ist zudem ein frühes Indiz, wie weit sich in „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ die verschiedenen Animationstechniken auffächern. Auch der Held nimmt im Spider-Verse Rollen aus allen möglichen Kinderzimmer-Zusammenhängen an: als T-Rex-Spider, Lego-Spider, Punk-Spider, um nur einige zu nennen. Der Zwischenstopp in Indien dient aber nur als Übergang in das Spider-Verse, in dem Miguel O’Hara, der „Ninja Vampire“, ein äußerst humorloses Regime über die verschiedenen Spider-Man-Narrative befehligt.
Der Tod von Peter Parkers Onkel Ben auf Erde Nummer 616 – beziehungsweise von den äquivalenten Figuren in den Spiegelwelten – ist das zentrale Ereignis im Spider-Man-Mythos, das die Ordnung im Multiversum aufrechterhält. Für Miles bedeutet das: Er kann seinen Vater retten, indem er den Plan von The Spot vereitelt, und damit einen kosmischen Reset auslösen.
Probleme mit den Erziehungsberechtigten
Um Kinder und ihre Eltern geht es auch in „Spider-Man: Across the Spider-Verse“, aber eher ganz grundsätzlich: Das Verhältnis zu den Erziehungsberechtigten war immer schon der emotionale Kern der Spider-Man-Geschichte. Lord und Miller fragen nun, was passiert, wenn sich dieser Kanon der Superheldenerzählung gegen den Kanon selbst auflehnt. In dem einen Universum macht Gwens Vater seine Tochter für den Tod ihres Freundes Peter Parker verantwortlich. Im anderen erhält der hochbegabte, aber renitente Teenager Miles, der ständig Menschen zu retten versucht, Hausarrest, weil migrantische Kinder im Leben immer etwas besser als alle anderen sein müssen.
Lösen lässt sich diese Probleme nur im Multiversum mit seinen verschiedenen Handlungssträngen und Biografien. Und und gegen einen Gegner, der nicht nur der „Bösewicht der Woche“ sein möchte – beziehungsweise der Bösewicht in einem Universum –, sondern in allen Universen. Aber besteht, wenn es drauf ankommt, der Mythos gegen die Liebe der Kinder zu den Eltern? Oder auch die zwischen zwei Teenagern?
Wie – und ob– sich diese Handlungsfäden zu einer (buchstäblich universalen) Lösung verbinden, wird erst das Sequel „Beyond the Spider-Verse“ im kommenden Jahr beantworten. Cliffhanger sind im Franchisekino aktuell ja an der Tagesordnung, doch diese Atempause ist wohlverdient. „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ gelingt das seltene Kunststück, sich einerseits vertraut anzufühlen und gleichzeitig erzählerisch und visuell immer wieder neu und überraschend zu bleiben: ein fantastisches Kaleidoskop aus Farben und Spiegelerzählungen. Dagegen sieht das MCU gerade ganz schön alt aus.