Das seelendrängerische Überlebenswerk: Charlotte Salomon im Münchner Lenbachhaus
„Leben oder Theater“ steht auf dem Rücken der jungen Frau, die im Badeanzug mit Pinsel und Zeichenblock am Meer sitzt. Es ist das letzte Bild eines gewaltigen Konvoluts, das die jüdische Künstlerin Charlotte Salomon nach ihrer Flucht 1938 aus Berlin nach Südfrankreich in knapp zwei Jahren schuf. Mit ihrem „Singespiel“ aus Zeichnungen, Textzeilen, szenischen und musikalischen Anmerkungen hat sie ein einzigartiges Gesamtkunstwerk hinterlassen. Mehr als die Hälfte der 769 Blätter ist derzeit im Münchener Lenbachhaus zu sehen.
In Auschwitz ermordet
Auf blauem, rotem und gelbem Fond reihen sich die Blätter chronologisch als Vorspiel, Hauptteil und Nachwort aneinander. Im einheitlichen Format von 32,5 x 25 cm sind sie auf einer schmalen Schiene ohne Rahmung im gesamten Kunstbau aufgereiht. Nach dem Titelblatt sind die mit klingenden Pseudonymen versehenen Personen aus dem Umfeld der 1917 in Berlin geborenen Künstlerin aufgeführt, die 1943 im fünften Monat schwanger in Auschwitz ermordet wurde.
In einem wilden Gattungsmix fügen sich die Szenen ihres Lebens wie zu einer Graphic Novel avant la lettre aneinander. Straßenszenen, Familienfeste, Reisebilder, Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen, Interieurs, Porträts und Landschaften in leuchtenden Farben wechseln einander ab, mal aus der Vogelperspektive, mal herangezoomt, mal in einer ungestümen Bildsprache, die Anklänge an Kirchner, Munch oder Chagall erkennen lässt.
Flucht nach Südfrankreich
Die Bilder erzählen von der Familiengeschichte, die bereits vier Jahre vor Charlottes Geburt mit dem Selbstmord ihrer Tante beginnt. Ihre gutbürgerliche Kindheit in einer jüdisch-assimilierten Familie wird vom frühen Tod der Mutter und dem aufziehenden Nationalsozialismus überschattet. Der Vater heiratet die Sängerin Paula Lindberg alias „Paulinka Bimbam“, der wohl die musikalische Grundierung des „Singespiels“ zu verdanken ist. 1933, ein Jahr vor ihrem Abitur verlässt Charlotte die Schule wegen antisemitischer Anfeindungen und bewirbt sich 1935 an der heutigen Universität der Künste, wo sie tatsächlich einen Studienplatz erhält. Ein Jahr später kommt sie ihrer Exmatrikulation zuvor, um zu den Großeltern nach Südfrankreich zu fliehen.
Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 erlebt Charlotte nicht nur den Suizid ihrer Großmutter, sondern erfährt durch ihren Großvater auch vom Selbstmord ihrer Mutter und Tante. Allein mit ihren Erlebnissen sieht sich Charlotte Salomon nach der Rückkehr aus dem Internierungslager Gurs vor die Frage gestellt, „sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz Verrückt-Besonderes zu unternehmen“. Mit dem programmatischen Namen „Charlotte Kann“ entschied sie sich für Letzteres, indem sie ihr Alter Ego zu dieser „seelendrängerisch geleisteten Arbeit“ ermächtigte.
Über das Therapeutische von Kunst hatte Charlotte schon viel von dem Gesangslehrer Alfred Wolfssohn erfahren, in den sie als junges Mädchen verliebt war. Als „Amadeaus Daberlohn“ dominiert er den Hauptteil des „Singespiels“ .Traumatisiert vom Ersten Weltkrieg hatte der Gesangspädagoge seine Stimme verloren, die er mit Hilfe einer selbst entwickelten Gesangstechnik zurückgewinnen konnte.
Nach dem Krieg gelangte das Konvolut, das Salomon ihrem Arzt vor der Deportation mit ihrem Mann Alexander Nagler mit den Worten „Heben Sie das gut auf, es ist mein ganzes Leben“ übergeben hatte, an ihren Vater, der mit seiner Frau im holländischen Exil überlebt hatte und es dem Jüdischen Museum Amsterdam schenkte. Trotz zahlreicher Ausstellungen seit den 1960er Jahren, darunter 2012 auf der documenta 13, sowie wissenschaftlicher, literarischer, musikalischer und filmischer Auseinandersetzungen, hat das Lebenswerk von Charlotte Salomon nicht dieselbe Bekanntheit wie das Tagebuch der Anne Frank erlangt.
Ein unkonventionelles Überlebenswerk
Ein 2015 bekannt gewordener, 35-seitiger Brief wird die Rezeption indes radikal verändern. Er enthält das Geständnis Salomons, ihren Großvater vergiftet zu haben, mit dem sie ein schwieriges Verhältnis verband. Während Salomon bisher als eher kindliche Künstlerin galt, muss man in ihrem Überlebenswerk nun wohl eine ebenso komplexe wie abgründige Persönlichkeit erkennen.