Porträt der ukrainischen Autorin Anna Melikova: Verliebt in die Uni-Dozentin

Wir treffen uns in einem Café in Schöneberg. Anna Melikova trägt einen kurzen Mantel, einen Hut und einen aquamarinblauen Schal. Die Accessoires sind gut auf ihre Augen abgestimmt. Die Farben sind tief und ausdrucksstark, genau wie ihre Besitzerin.

Die große, schlanke Frau mit den langen, dunklen Haaren bestellt einen Tee mit Ingwer und legt ein dickes Buch mit einem tiefblauen Cover auf den Tisch. Es ist ihr Debütroman „Ich ertrinke in einem fliehenden See“ (Übersetzung: Christiane Pöhlmann, Matthes & Seitz, 477 Seiten, 23,99 €). Wie die Autorin erzählt, hat sie 15 Jahre daran geschrieben. Der autofiktionale Roman handelt von einer co-abhängigen Frauenbeziehung und dem langen Trennungsprozess, vor dem Hintergrund der Annexion der Krim durch Russland.

Anna Melikova wurde 1984 in der ukrainischen Stadt Jewpatorija auf der Krim geboren. Im Jahr 2014 wurde die Halbinsel am Schwarzen Meer von Russland besetzt. Melikovas Vater lebt immer noch dort. Die Autorin erzählt, dass sie direkt vor unserer Begegnung mit ihm geskypt hat.

Das Gespräch hat sie wieder einmal traurig gemacht. „Mein Vater fragte mich, worüber ich 15 Jahre lang geschrieben habe. Ich habe ihm gesagt, dass es um mein Leben in Kyjiw, Moskau und Berlin geht. Ich traue mich einfach nicht, ihm zu erzählen, welche Aspekte meines Lebens im Zentrum stehen, mein Vater weiß nicht, dass ich lesbisch bin.“ Die beiden haben überdies unterschiedliche Ansichten zu politischen Ereignissen. Das führe dazu, dass sie nicht über die beiden wichtigsten Themen des Romans nicht sprechen, erklärt die Schriftstellerin.

Dass das Buch auf Deutsch erschienen ist und ihr Vater es deswegen nicht lesen kann, ist für sie eine Erleichterung. Der Roman wäre keine angenehme Lektüre für ihn, sagt sie. Denn er handelt von der Beziehung der Protagonistin zu ihrer drei Jahre älteren Universitätsdozentin. Zu Beginn des Romans beschreibt die Ich-Erzählerin sich als pro-russisch, sie liebt russische Kultur und spricht Russisch, lebt und studiert aber in Kyjiw.

Das Verhältnis der Erzählerin und der Dozentin für ukrainische Literatur und Postmoderne ist schwierig. Denn die Ältere besteht darauf, mehrere Frauen gleichzeitig zu lieben. Mit der Maidan-Revolution und der Annexion der Krim im Jahr 2014 bekommt die Beziehung eine politische Dimension, denn die Studentin wendet sich immer stärker der ukrainischen Kultur zu, die Dozentin spricht ihr diese Identität jedoch ab. Auch mit ihrem russlandtreuen Vater gerät sie immer wieder aneinander.

Anna Melikova spricht in der Öffentlichkeit kein Russisch mehr und schreibt auch keine literarischen Texte mehr in dieser Sprache. Unser Gespräch im Café findet auf Ukrainisch statt. Wobei die Autorin zugibt, dass sie sich nicht gerne interviewen lässt. Denn sie ist es gewohnt, selbst die Fragen zu stellen. Als sie im Jahr 2016 als Filmkritikerin in Moskau lebte, lernte Melikova die Regisseurin Isabelle Stever kennen, die dort ihren Film „Das Wetter in geschlossenen Räumen“ mit Maria Furtwängler vorstellte.

Von Moskau nach Berlin

Ein Jahr später zog Melikova nach Berlin. Isabelle Stever und sie sind inzwischen verheiratet. Die beiden sind auch ein Kreativteam. So war Melikova Co-Drehbuchautorin von Stevers Film „Grand Jeté“, der 2022 auf der Berlinale Premiere hatte. Und Stever unterstützte ihre Frau dabei, den Roman über deren schmerzhafte erste Liebe fertigzustellen. Letztendlich ist es die Geschichte einer Befreiung geworden, bei der Isabelle Stever und Berlin eine große Rolle gespielt haben.

Das Paar war dieses Jahr oft zur Vorbereitung seines neuen Films in Kyjiw. In „I Rarely Wake Up Dreaming“ geht es um ein queeres ukrainisches Paar, dessen Gefühle auf die Probe gestellt werden, als Russland seinen Krieg auf die gesamte Ukraine ausweitet. Melikova hat das Drehbuch geschrieben, Stever führt Regie. Das Werk über eine lesbische Frau und einen trans Mann thematisiert auch, wie sich das gesellschaftliche Bild der Männlichkeit verändert.

Die Dreharbeiten sollen in den kommenden Monaten in der Ukraine und in der Nähe von Köln stattfinden. Von deutscher Seite von sind Tom Tykwer und Uwe Schott in die Produktion involviert. Trotz der Gefahr sagt Anna Melikova, sei es für sie einfacher, in Kyjiw zu sein, als in Berlin, wo sie auf ihrem Mobiltelefon Nachrichten erhält, wenn die Stadt wieder unter Beschuss steht. „In solchen Momenten ist es besser, vor Ort zu sein und zu sehen, was passiert.“

Gerne würde die Autorin eines Tages wieder auf die Krim fahren, um ihren Vater und das Schwarze Meer zu sehen. „Wahrscheinlich träume ich deshalb immer wieder von Zuhause, weil ich momentan nicht dorthin zurückkehren kann und allmählich die Hoffnung verliere, dass es jemals möglich sein wird“, sagt sie.