Momente der Wahrheit
Als der Krieg ausbrach, konnte sich die Ukrainerin Marija Pawlowa nicht vorstellen, ihre Heimat zu verlassen. Eine Woche lang blieb die 24-Jährige in ihrer Wohnung in Charkiw – ohne Strom und warmes Wasser. Erst als sie von immer mehr Freunden aus Russland und der Ukraine angefleht wurde, zu gehen, entschied sie sich für die Flucht.
Pawlowa lebt inzwischen in Vancouver, wo sie kurz nach ihrer Ankunft ein Video aufgenommen hat. Es zeigt die junge Frau, wie sie ihre Katze streichelt und auf Englisch in die Kamera spricht: „Ich bin beinahe glücklich, nach Monaten fühle ich mich besser.“
Die Video-Botschaft hat die Ukrainerin für die Gruppenausstellung „Fragmente des Kriegs – Bilder aus der Ukraine“ aufgenommen, die derzeit im Willy-Brandt-Haus zu sehen ist. (bis 21. August, Di-So 12-18 Uhr). In Abständen von mehreren Tagen und Wochen filmten sich Marija Pawlowa und weitere Porträtierte und schickten die Videos den beiden Fotografinnen Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber, die zuvor gemeinsam in die Ukraine gereist waren, um den Alltag der Menschen im Krieg festzuhalten. Die Ausstellung wird nun laufend mit den Vlogs aktualisiert.
Sieber ist gleich zu Beginn des Krieges in die Ukraine gereist
Im Atrium des Gebäudes können Besucherinnen und Besucher die Entwicklung der Personen verfolgen und mit Hilfe von Kopfhörern ihre Erzählungen hören. „Ob noch weitere Videos dazukommen, hängt von den Porträtierten ab. Wir stehen weiterhin in Kontakt mit ihnen“, sagt Manhartsberger, 1987 geboren, mit Wohnsitz in Wien und Hannover.
Gemeinsam mit der Fotojournalistin Laila Sieber ist sie in den ersten Kriegstagen in die Westukraine gereist. Neben den Videos sind Porträt- und Detailaufnahmen entstanden, die in der Ausstellung von Protokolltexten ergänzt werden. Ihre Serie „Wo man die Stille hören kann“ erzählt in Bewegbild, Fotografie, Text und Ton Geschichten von Menschen aus der Ukraine – von ihrem Leben als Studierende, Ärzte, Soldatinnen, Eltern und Kinder.
Ähnlich verhält es sich mit den Arbeiten der Dokumentarfotografin Johanna-Maria Fritz, die ins Landesinnere der Ukraine gereist ist. Sie war eine der ersten Fotografinnen in Butscha, nachdem die dort verübten Kriegsverbrechen der russischen Armee bekannt worden waren. Ihre Bilder zeigen einen Soldaten auf der Bahnhofsstraße mit dutzenden zerstörten Panzern oder wartende Menschen am Grenzübergang nach Polen.
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Fritz’ Fotoserie „Im Garten ein Grab“ ist ebenso flüchtig und situativ wie die multimediale Präsentation ihrer Kolleginnen. „Wir begannen Mitte März, die Ausstellung zu organisieren. Die Eröffnung war für Juni geplant. Wir mussten uns also fragen: Wie gehen wir damit um, dass wir überhaupt nicht wissen, wie sich der Krieg weiterentwickeln wird?“, sagt Andy Heller, die die Schau im Willy-Brandt-Haus kuratiert hat.
Von Johanna-Maria Fritz stammt eine Aufnahme, die Gewehrkugeln und ein Stück Knäckebrot zeigt, drapiert auf rosa Blumenstoff. Die Kugeln gehören einem 39-jährigen Ukrainer namens Lawrentii, dessen Vater als Partisan während des Zweiten Weltkriegs gegen die Nazis gekämpft hat, wie ein Bildtext verrät.
Der Sohn spare die Kugeln nun für die russischen Soldaten auf. Wie es mit Lawrentii weiterging, erfährt man allerdings nicht. Bei Fritz gibt es keine Video-Updates.
“Ich kann mir nicht vorstellen, auf meine Freunde in Russland zu schießen”
Beide Serien thematisieren das Verhältnis der Ukraine zu Russland: So erzählt ein Video aus der Reihe von Manhartsberger und Sieber vom Radikalisierungsprozess des 22-jährigen Wanja. Nach Kriegsbeginn ist er in die Karpaten geflohen. In einem Ausschnitt fragt er: „Will man Russen noch in seinem Land haben?“ Er fordert, die Europäische Union solle Russen und Russinnen die Einreise verweigern.
Anders die 19-jährige Misa: Eigentlich heißt sie anders, möchte aber nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden. „Ich hatte vor dem Krieg viele Freunde in Russland“, wird sie zitiert.
Einer von ihnen habe als Mechaniker zum russischen Militär gemusst und sei im Gefecht verletzt worden. Misa selbst trainiert als Freiwillige an Holzwaffen: „Wir haben einmal darüber gesprochen, was wir machen würden, wenn wir uns im Kampf gegenüberstehen würden. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, auf ihn zu schießen.“
Fotografinnen wie Manhartsberger, Sieber und Fritz ist es zu verdanken, dass die Bilder des Krieges in den vergangenen Monaten die Welt aufgerüttelt haben. Sie dokumentieren, welche Schrecken nicht weit von Berlin passieren. Trotz der Masse an Bildern – oder gerade deswegen – sei es wichtig zu hinterfragen: „Was wird gezeigt und was nicht?“, sagt Manhartsberger.
Es gebe stets mehrere Perspektiven, jede Geschichte sei anders und könne sich wandeln. Bilder jedoch zeigen lediglich Fragmente. Es bleiben Momentaufnahmen.