Sag mir, wo die Lieder sind

Wenn die letzte Schlacht geschlagen, die letzte Bombe explodiert ist, dann könnte die Welt zur Wüste geworden sein. Links liegt ein umgestürzter Militärlaster, von rechts rasselt ein Panzer durchs Bild. Dahinter steht eine Frau mit langen schwarzen Haaren und im kniekurzen schwarzen Kleid und singt: „Sag mir, wo die Blumen sind“.

Die Blumen sind verschwunden, genauso wie die Mädchen, die die Blumen pflückten, die Männer, die die Mädchen mitnahmen, die Soldaten, zu denen die Männer geworden waren, und die Gräber, in denen die Toten lagen. Was bleibt, ist die Wüste und die Sängerin, die seufzend fragt: „Was ist geschehen, wann wird man je verstehen?“

Eine Großaufnahme zeigt ihr blasses Gesicht, die künstlichen schwarzen Wimpern und die Hände mit weißlackierten Fingernägeln, die sie klagend empor hebt. Die Sängerin heißt Belina, die Fernsehszene, die wirkt, als sei sie aus einem Pariser Existenzialistenkeller in die gleißende Sonne Nordafrikas verlegt worden, stammt aus dem Jahr 1963.

In seinem Dokumentarfilm „Belina – Music For Peace“, der beim Jüdischen Filmfest Berlin Brandenburg zu sehen ist, erzählt Regisseur Marc Boettcher die erstaunliche Geschichte dieser Frau, die in der Nachkriegszeit den Aufstieg zum Star schaffte und später wieder vergessen wurde. Sag mir, wo die Lieder sind.

Attraktive Botschaft

Mit ihrer Melancholie und dem dunklen Timbre ihrer Stimme passte Belina nicht recht in den Optimismus des Wirtschaftswunders. Doch die Botschaft, die sie anbot, war attraktiv: Versöhnung. „Haben Sie neben vielen schlechten Erinnerungen auch ein paar gute?“, wollte der Moderator Wolf Schneider 1982 in einer Talkshow von ihr wissen. Ihre ausweichende Antwort: „Jeder hat irgendetwas durchgemacht, das ist klar.“

Durchgemacht und überlebt hatte Belina den Holocaust. Lea-Nina Rodzynek – so ihr bürgerlicher Name – war 1925 in dem polnischen Dorf Sterdyn zur Welt gekommen. Als ihre jüdische Familie von den deutschen Besatzern deportiert werden sollte, flohen sie gemeinsam in die Wälder. Dabei wurde ihre Mutter erschossen, der Vater und ihr Bruder starben später im Vernichtungslager Treblinka.

Denunziert und versteckt

Lea-Nina versteckte sich wochenlang in einer Höhle, ging mit falschen Papieren nach Deutschland, wurde verhaftet. Sie musste Zwangsarbeit in einem Hamburger Rüstungsbetrieb leisten, wurde als Jüdin denunziert, kam ins Gefängnis, konnte aus einem Lazarett fliehen und wurde bis Kriegsende von einem Pastor in Lübeck versteckt.

Seit dem Einmarsch der Deutschen sei sie kein Kind mehr gewesen, hat Belina ihrer Cousine erzählt – eine der Zeitzeuginnen, mit denen Boettcher sprach. „Ich war alt, uralt.“ Sie war – so die Cousine – traumatisiert, hat aber in der Öffentlichkeit nicht darüber geredet. Stattdessen sagte sie: „Ich habe verziehen – verzeiht auch Ihr!“.

Siegfried Behrend und BelinaFoto: MB Film

Bevor Belina ihren Durchbruch als Folksängerin hat, geht sie durch die Schule des deutschen Schlagers. Mäßig ergriffen singt sie Zeilen wie „Warum bist du fortgeblieben / Warum hast du nie geschrieben?“, tritt als Barsängerin im Kriminalfilm „Das Geheimnis der schwarzen Witwe“ auf, tanzt mit Dietmar Schönherr Cha-Cha-Cha. In einem erschütternd abwertenden Fernsehbeitrag heißt es, Belina käme „aus dem Milieu in Paris“.

Wahr ist nur: Sie besitzt die französische Staatsbürgerschaft und hat in Paris eine Platte mit jiddischen Ghettoliedern veröffentlicht. Bekannt wird sie mit einer Fernsehshow, bei der Regisseur Truck (Anagramm für Kurt) Branss ihre Songs in formal kühne Schwarzweißbilder übersetzt. Zweiter Glücksfall: Bei einer Preisverleihung begegnet sie dem Berliner Gitarristen Siegfried Behrend.

Beseelte Stimme

Belina & Behrend werden zum Markenzeichen und zu Vorläufern eines Genres, das später Weltmusik genannt wird. Das Konzept setzt ganz auf Belinas Stimme, die Behrend „beseelt“ nennt und von seiner akustischen Gitarre begleitet wird. Sie spielen Folklore aus der ganzen Welt, ein Wiegenlied aus Israel genauso wie schwermütige russische Balladen oder griechischen Sirtaki, Belina singt in 17 Sprachen. Ihr erstes Album hält sich 40 Wochen in der deutschen Hitparade. Behrend ist ein Globetrotter, hat schon vor Chruschtschow im Kreml gespielt und der iranischen Kaiserin Farah Diba Gitarrenunterricht gegeben.

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Mit Unterstützung des Goethe-Instituts gehen Belina und Behrend 1965 erstmals auf Welttournee, sie verstehen sich als „musikalische Diplomaten“ und absolvieren 150 Konzerte in 252 Tagen. Vor dem Abflug posieren sie mit „dem längsten Flugschein der Welt“, er ist mehr als zehn Meter lang. Die spröde Belina und der buddhahaft wirkende, aber feuerwerkshaft flinke und kettenrauchende Behrend bilden eine auffällige Paarung.

[„Belina – Music For Peace“ läuft beim Jüdischen Filmfestival am 15. 6. (19 Uhr, Neue Synagoge Berlin), 16. 6 (15 Uhr, Passage Kino) und 17. 6. (19 Uhr, Jüdisches Theaterschiff MS Goldberg)]

Der Film zeigt sie in Hotels und auf Flughäfen, sammelt Anekdoten. In Saigon herrscht Krieg mit Schießereien und Bombenexplosionen, in Pakistan fliegen Flaschen auf die Bühne, weil sie jüdische Lieder spielen. Auch nachdem Behrend geheiratet hat, begeben sie sich noch einmal auf Konzertreise, diesmal zu dritt.

In Deutschland lässt das Interesse nach, dort ist die Folklorewelle mit Hits wie „Fiesta Mexicana“ (Rex Gildo) im Schlager-Mainstream angekommen. Und ein israelisches Gesangsduo läuft Belina & Behrend den Rang ab: Esther & Abi Ofarim. Anfang der siebziger Jahre endet die Zusammenarbeit.

Marc Boettcher hat schon Filme über Bert Kaempfert, den tragisch früh gestorbenen Schlagerstar Alexandra und die Jazzsängerin Inge Brandenburg gedreht. Seine Dokumentation „Belina – Music For Peace“, dessen Protagonistin 2006 gestorben ist, hat eine Botschaft: Musik ist eine universelle Sprache, sie kann Frieden stiften. Schön, wenn es so wäre.