Plötzlich Champion
Die Mannschaft ohne Leibchen lag 0:3 zurück, aber das würde sich gleich ändern. Weil der Ball bei Kai Havertz landete. Weil Havertz nur noch den Torhüter vor sich hatte. Und weil er ihn mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit umkurvte. Genau wie vor einer Woche, als Havertz das wichtigste Tor seiner noch jungen Karriere erzielte. Am Freitagvormittag aber, im Training der Fußball-Nationalmannschaft, setzte er den Ball an den Pfosten.
Besser so als andersrum. Vor einer Woche, im Finale der Champions League, hat Havertz in einer ähnlichen Situation das 1:0 für den FC Chelsea erzielt. Es war das einzige Tor das Spiels, und deshalb ist die Welt für Kai Havertz, 21 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Aachen, fußballerisch geformt bei Bayer Leverkusen, seitdem eine andere.
„Hallo, Champion.“ So wurde er am Freitagmittag bei der Pressekonferenz der deutschen Nationalmannschaft in Seefeld begrüßt. Tags zuvor war er mit seinem Teamkollegen Timo Werner und mit Ilkay Gündogan vom unterlegenen Champions-League-Finalisten Manchester City im Trainingslager eingetroffen, nach der „gefühlt besten Woche des Lebens“. Den Begriff Champion hat Havertz in den ersten zwei, drei Tagen nach dem Finale häufiger gehört, „aber irgendwann hört es auch wieder auf“.
Die Konkurrenz ist groß
Bei der Nationalmannschaft bewegt er sich jetzt als Champion unter vielen Champions, als Gleicher unter Gleichen gewissermaßen. Aber ist er das wirklich? Havertz gilt schon lange als außerordentliches Talent. Bereits mit 17 spielte er in der Bundesliga, mit gerade 19 gab er im September 2018 sein Debüt für die Nationalmannschaft, und theoretisch könnte er am Sonntag auch noch für die deutsche U 21 im EM-Finale gegen Portugal auflaufen. Aber diesem Team ist Havertz längst entwachsen.
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Havertz’ fußballerisches Alter war seinem biologischen Alter immer schon ein gutes Stück voraus. An Lobpreisungen für den Hochbegabten hat es auch in früheren Jahren nie gemangelt. Rudi Völler, der Sportdirektor von Bayer Leverkusen, hat Havertz einmal als Mischung aus Mesut Özil und Michael Ballack bezeichnet: Vom einen – Özil – habe er die Geschmeidigkeit und Umsicht, vom anderen – Ballack – Kopfballstärke und Torgefahr. Auch der Bundestrainer schätzt ihn, hat ihm „eine unglaubliche Spielintelligenz und eine wahnsinnige Ruhe am Ball“ attestiert. Dass Havertz die Zukunft gehört, auch in der Nationalmannschaft, das ist schon lange keine Frage mehr. Die Frage ist: Wann fängt diese Zukunft eigentlich an?
Auf 13 Länderspiele hat es Havertz seit seinem Debüt gebracht. Das ist angesichts seiner Befähigung eine ungewöhnliche Zahl – eine ungewöhnlich niedrige. Sie hängt aber auch mit dem exquisiten Angebot zusammen, das Bundestrainer Löw fürs zentrale Mittelfeld zur Verfügung steht. Und durch die Rückkehr von Thomas Müller hat sich die Konkurrenzsituation sogar noch einmal verschärft.
Havertz’ Vorteil ist, dass er nicht nur wie Müller zentral hinter der Spitze, sondern auf verschiedenen Positionen einsetzbar ist. Im Champions-League-Finale hat er für Chelsea als verkappter Rechtsaußen gespielt, und in seiner Leverkusener Zeit musste er häufiger als falsche Neun aushelfen. Mit Blick auf den Mangel an Stoßstürmern im Kader der Nationalmannschaft könnte das auch für die Europameisterschaft eine Variante sein.
Rechtzeitig bei Chelsea angekommen
Ein weiterer Vorteil für Kai Havertz ist: Er ist mit einer Menge frischem Selbstvertrauen in Tirol angekommen. „Ich will Stammspieler sein. Das ist ganz klar. Aber es geht nicht, dass man sein eigenes Ego über die Mannschaft stellt“, sagt er zu seinen Ambitionen bei der EM. Der Erfolg in der Champions League, der größte Titel im europäischen Klubfußball, den er seiner Mannschaft beschert hat, hat Havertz noch ein Stück wachsen lassen. „Klar gibt das Selbstvertrauen“, sagt er. „Da muss man nicht drumherum reden. Das war ein sehr wichtiges Tor für mich persönlich. Und ich brauche Selbstvertrauen, dann spiele ich am besten.“
Das Finaltor von Porto, sein erstes überhaupt in der Champions League, überstrahlt alles. 80 Millionen Euro hat Chelsea vor einem Jahr für Havertz an Bayer Leverkusen gezahlt. Nicht immer ist der junge Deutsche den damit verbundenen Erwartungen gerecht geworden. „Es war eine Riesenumstellung für mich, und es hat lange gedauert“, erzählt er über den Wechsel nach London.
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Von seinen 27 Einsätzen in der Premier League absolvierte Havertz nur acht über die volle Distanz. Vier Tore erzielte er in seiner ersten Saison für Chelsea; in den beiden Spielzeiten zuvor waren es für Leverkusen noch zwölf und siebzehn gewesen. „Aber im Endeffekt war es trotzdem ein Top-Jahr“, sagt Havertz. „Auf die negativen Dinge schaut jetzt keiner mehr, sondern nur noch auf das Tor.“
Die Lobeshymnen, die auf ihn gesungen werden, sind auf jeden Fall noch etwas lauter geworden. Günter Netzer hat der Deutschen Presse-Agentur nach dem Finale gesagt, dass Kai Havertz „ein absoluter Weltklassespieler sein kann“. Ihm selbst geht das alles viel zu schnell. „Ich bin immer noch 21“, sagt er. „Da fehlt noch viel zur Weltklasse.“ Aber die Dinge schreiten unaufhörlich voran. Nächste Woche wird Kai Havertz schon 22.