Dialog mit Panzern und Granaten
10. April 2022
Den Termin für die Lesung am Samstag in Hamburg habe ich noch vor dem Krieg ausgemacht. Ich soll die Veranstaltungsreihe „Angekommen? Juden in Deutschland“ im Goldbekhaus eröffnen. Die Kuratoren Stella Jürgensen und Jürgen Krenz haben mich zu einem ungewöhnlichen Format eingeladen – ein Erzählkonzert.
Mit Stella vereinbarte ich Anfang des Jahres, dass ich an dem Abend mein Buch über die jüdische Musik präsentiere, in den letzten Wochen finde ich es jedoch viel wichtiger, bei meinen Veranstaltungen aus den aktuellen Texten vorzulesen. Aber was könnte man dazu singen?
Zum ersten Mal darf ich auf einer Berliner Bühne Ukrainisch sprechen
Während ich an der Songauswahl sitze, stelle ich fest, dass die Lieder, die ich bereits vor Jahren geschrieben habe, plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ich habe einige Songs über meine Heimatstadt Charkiw und jedes Mal wenn ich sie singe, habe ich ganz konkrete Bilder im Kopf.
Zur Zeit verändern sich diese Bilder dramatisch, sie verwandeln sich in etwas Neues. Es ist ein ganz seltsames, sehr intensives Gefühl, als ich diese Songs auf der Bühne des Goldbekhauses performe. Im Publikum sind an diesem Abend auch Protagonisten aus meinem Buch.
Vor Lesungsbeginn treffe ich kurz den Violinisten Mark Kovnatskiy. Anfang der 2000er, als ich im Kaffee Burger in Berlin die Reihe „Shtetl Superstars“ mit den neuen, coolen jüdischen Musikern veranstaltete, war Mark mit seiner Hamburg Klezmer Band einer meiner ersten Gästen. Solange wir uns kennen, war er immer ein scharfer Kritiker des Putin-Regimes.
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Vor einigen Tagen schrieb er auf Facebook einen Aufruf an alle, die seine Konzerte organisieren mit folgender Bitte: „Bitte erwähnen Sie unter keinen Umständen mehr, dass ich ursprünglich aus Russland komme. Das Letzte, was ich will, ist, mit diesem Monsterstaat, dem ich vor 19 Jahren zum Glück entkommen konnte, in Verbindung gebracht zu werden.“ Mit seiner Frau engagiert sich Mark in den letzten Wochen ehrenamtlich am Hamburger Hauptbahnhof und hilft ukrainischen Flüchtlingen.
Auch Marina Selikowitsch, die in Kiew geboren ist und in den späten 1990ern mit dem Trio Nigendel auf vielen deutschen Bühnen jiddische Lieder vortrug, hilft den Neuankommenden, wo und wie sie kann. Ich habe ihr meine alte Bekannte Julia Marushko vorgestellt, die auch zur Lesung gekommen ist. Julia ist 2014 aus Lutsk nach Hamburg gezogen.
Sie hat ukrainische Events in Hamburg organisiert, ich hatte das Glück, bei manchen davon aufgelegt zu haben und kann mich noch heute an die großartige Stimmung erinnern. “Ukraine! Ukraine! In meiner Heimat ist Krieg!”, schreie ich seit so vielen Jahren”, sagt Julia, “aber erst jetzt hört man mir zu!”.
Eines ihrer Projekte war die Eröffnung der ersten Waldorfschule in ihrer ukrainischen Heimatstadt. In den ersten Kriegswochen hat sie geschafft, alle Schüler mit ihren Müttern nach Hamburg zu evakuieren.
Am nächsten Morgen fahre ich zurück nach Berlin, wo heute einige Veranstaltungen mit dem Schwerpunkt Ukraine stattfinden. Ich bin eingeladen, an einer Diskussion „Wie Künstler*innen dem Krieg begegnen“ teilzunehmen, sie findet im Rahmen des gigantischen Info-Events „Leuchtturm Ukraine“ in der Kreuzberger Markthalle Neun statt.
Zum ersten Mal in den 27 Jahren meines Lebens in Berlin darf ich auf der Bühne Ukrainisch sprechen. Zusammen mit der Moderatorin sind wir die einzigen im Raum anwesenden Gäste, die anderen schalten sich per Zoom zu. Ich kenne die beiden von früher, es sind Diana Berg, die Leitern des Platforma Tu, die es vor wenigen Wochen geschafft hat, aus Mariupol rauszukommen, und Ivan Lenyo von der Band Kozak System, der sich der Territorialverteidigung angeschlossen hat. Ivan trägt Militäruniform, in seinem Schoß hat er ein Maschinengewehr.
Kateryna Rietz-Rakul, die das Gespräch moderiert, fragt uns, was wir von den Versuchen mancher europäischer Kulturinstitutionen halten, einen Dialog zwischen ukrainischen und russischen Künstlern zu initiieren. „Ich verstehe, dass es den Europäern schwer fallen kann, sich die aktuelle Lage vorzustellen“, sagt Ivan, „also berichte ich Ihnen gern, wie der russisch-ukrainischer Dialog in der Ukraine aussieht. Ein russischer Panzer fährt in ein ukrainisches Dorf ein und hält vor einem Haus. Ist das Haus schön, werden die Bewohner vergewaltigt und getötet, das Haus wird besetzt. Wenn das Haus nicht so attraktiv ist, schmeißt man einfach ein paar Granaten durchs Fenster.“
Diana Berg stimmt Ivan zu. Als sie von Mariupol spricht, sehe ich, wie einige im Publikum weinen. „Haben Sie schon Bilder aus Butscha gesehen?“, fragt sie. „Stellen Sie sie das Zehnfache, Hundertfache vor – so werden die Bilder aus Mariupol aussehen“, sagt sie. Nach diesen kurzen Statements bezweifle ich, dass sich noch jemand einen Kulturdialog vorstellen kann. Oder ihn wünscht.
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