Strahlende Nebensonnen
Im deutschsprachigen Raum ist die französische Musikkultur des 17. und 18. Jahrhunderts allenfalls Liebhabern geläufig, immer noch. Vorbehalte gegen den vermeintlich bloß staatstragend schönen Schein, gegen höfisches Blendwerk ohne tiefere Bedeutung trübten lange den Blick für den eigensinnig tönenden Zauber, der damals von Versailles und Paris ausging. Die Säulenheiligen in den vorwiegend protestantisch temperierten Gebieten Mitteleuropas hießen Schütz und Bach. Selbst Händel war – sieht man vom populären „Messiah“-Oratorium ab – trotz reger Festival-Fürsprache in Göttingen und Halle noch vor wenigen Jahrzehnten für viele terra incognita.
Doch während die Opern des nach London emigrierten Sachsen heute fest im Repertoire verankert sind, bleibt der gerade im Musiktheater funkelnde Esprit seines innovativen Zeitgenossen Jean-Philippe Rameau sträflich unterbelichtet. Ganz zu schweigen von den für Ludwig XIV. komponierten Tragédies lyriques Jean-Baptiste Lullys oder den Preziosen seiner Nachfolger, eines Marin Marais oder André Campra.
Dass bei den seit 1992 veranstalteten Barocktagen an der Staatsoper diesmal Alte Musik aus Frankreich das Zentrum des Programms bildete, kommt vor diesem Hintergrund einer Großtat gleich. Nie zuvor waren Fülle und Tiefe, Farben und Substanz, geistblitzende Sinnlichkeit, Melancholie und Humor dieser unterschätzten Klangepoche so konzentriert und kontrastprall in Berlin zu erleben. Wer das Glück hatte, nicht nur die drei szenischen Produktionen auf der Hauptbühne, sondern auch die Konzerte im Apollo- und Pierre Boulez Saal zu verfolgen, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Je intimer der Rahmen, desto plastischer traten deren besondere Eigenschaften hervor.
Betörend elastisches Verständnis pulsierender Zeit
Zum Beispiel ein betörend elastisches Verständnis pulsierender Zeit, das Jordi Savall mit seinem Ensemble Le Concert des Nations atemraubend nonchalant in den Tanzsätzen aus Lullys Schauspielmusik zu Molières „Le Bourgeois Gentilhomme“ sowie in schwerelos fließenden Gamben-Stücken von Marin Marais und dessen Lehrer Sainte-Colombe vorführte. Freier Atem, eine aus dem Geist der Improvisation schöpfende Verflüssigung, ja Aufhebung fixer Metren charakterisiert auch das Cembalospiel Christophe Roussets, eines der erfahrensten und kundigsten Anwälte für die vielschichtigen Klangsprachen des Ancien Régime.
In einem Recital mit der jungen, durch Airs Michel Lamberts und eine kleine Kantate Jean-Baptiste Stucks famos über die Flüchtigkeit der Liebe räsonierenden Mezzosopranistin Grace Durham brachte Rousset die (um Instrumentalstücke von Couperin und Leclair bereicherte und um zwei Violinen und Viola da Gamba erweiterten) Minidramen zum Swingen. Nicht minder animiert, dem goût français erfrischend angenähert, steuerte er die Protagonisten und Akademie für Alte Musik durch Glucks „Orfeo ed Euridice“, mit Max Emanuel Cencic und Anna Prohaska in den Titelpartien – eine neue Hörerfahrung mit jener Reformoper, die als Abkehr von den Mustern der italienischen Opera seria und Gegenentwurf zur der als artifiziell-verspielt gescholtenen Barockästhetik Pariser Provenienz in die Geschichte einging.
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Im direkten Vergleich mit Rameaus erstem, knapp 30 Jahre älterem Opernwurf „Hippolyte et Aricie“ fällt Glucks schlichte Einfalt allerdings ab. Um so deutlicher als Simon Rattle mit dem Freiburger Barockorchester, dem Staatsopernchor und einer von dem grandiosen Haute-contre Reinoud Van Mechelen nebst Anna Prohaska und Magdalena Kozená angeführten Solistenschar die überbordende Fantasie, den in mitreißend kühne Harmoniefolgen gegossenen Erfindungsreichtum Rameaus in jedem Takt spannungsvoll auslotete. Und das in der 2018 von Aletta Collins in einer abstrakten Licht- und Nebel-Installation Ólafur Elíassons passgenau auf die flirrende Musik durchchoreografierten Produktion.
Mit virtuos-rustikaler Komik
Schon das als Defilee prominenter Stimmen konzipierte Geburtstagskonzert, mit dem Emmanuelle Haïm das 20-jährige Gründungsjubiläum „ihres“ Orchesters und Chors „Le Concert d’Astree“ feierte, hatte die einzigartig unkonventionelle Genialität dieses Komponisten bekräftigt – in Gestalt der Instrumentalsuite aus der Oper „Les Boréades“, vom passionierten Rameau-Fan Rattle souverän entfacht.
Ausgangspunkt aller dramaturgischen Überlegungen zu den Barocktagen war freilich die Wiederbelebung der „Idoménée“-Tragödie André Campras, des wohl einflussreichsten Tonsetzers zwischen Lully und Rameau. Allein, der Unter den Linden als Hauptwerk dieser Übergangszeit präsentierte Fünfakter blieb szenisch vordergründig, die offene Stilistik und klangfarbliche Delikatesse gerieten merkwürdig blass – was nichts mit der Akustik im sanierten Haus, um so mehr mit der sehnig-kantigen, athletisch getakteten musikantischen Mentalität Emmanuelle Haïms zu tun hatte.
Es fehlte jenes gewisse Etwas, das der gerade mal 30-jährige, jazzerprobte, bis in verrückteste Ausdrucksextreme vorpreschende Cembalist Jean Rondeau bei seinem Solo-Recital und im Duo mit dem Cellisten Nicolas Altstaedt verkörperte: die innere liberté eines musikalischen Flanierens, das unterirdischen Verbindungen durch Zeiten und Kulturen aufspürt, etwa zwischen formsprengenden Experimenten Domenico Scarlattis und Arbeiten Marin Marais’ oder Antoine Forquerays.
Überhaupt waren es die Nebensonnen, die entscheidend zur Leuchtkraft des zehntägigen Festivals beitrugen. Einem Glanz, dessen schillerndes Kolorit nicht zuletzt durch Raritäten von Hotteterre, Chédeville, Buffardin oder Mouret bereichert wurde, die Dorothee Oberlinger und das Ensembles 1700 mit virtuos-rustikaler Komik, schließlich das 2012 von der Geigerin Martyna Pastuszka gegründete polnische Orkiestra Historyczna mit traumtänzerischer Verve entzündeten. Chapeau!