Heinrich von Kleist in Berlin: „Faszinierende Lücken und Leerstellen“
Wie wurden Sie Kleist-Forscherin und was fasziniert sie an Kleist?
Kleist habe ich zum ersten Mal während meines Literaturstudiums gelesen, besonders haben mich damals seine Dramen fasziniert, weil sie so anders waren als alle anderen Texte, die ich aus der Zeit um 1800 kannte. Die Körperlichkeit, die Dramaturgie der Blicke und Körper, der Fokus auf Raum und Bewegung, also im Grunde die besondere Theatralität seiner Werke faszinieren mich bis heute.
Aber auch das spannungsvolle Verhältnis zwischen Sprache und Körper, das Kleist in seinen Texten entwirft und die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen seiner Figuren machen für mich die Faszination seiner Texte aus.
So wenn er mit Penthesileas Verwechslung von Küssen und Bissen Sprache und Körper in einer Spannung aneinanderhält oder Michael Kohlhaas widerspruchsvoll als einen „der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ beschreibt oder am Ende seines Dramas „Prinz Friedrich von Homburg“ offenbleibt, ob der Prinz in die Schlachtrufe mit einstimmt oder nicht, mithin unklar ist, ob er sich innerhalb oder außerhalb der Ordnung befindet.
Letztlich sind es seine regelsprengenden Experimente mit der Darstellung des Körpers und sein Spiel mit der Sprache und mit Formen und Gattungen, die Kleist für mich so faszinierend machen. Bis heute aktuell machen ihn auch seine Kritik an einfachen Antworten und seine Dekonstruktion absoluter Wahrheiten und feststehenden, vermeintlich richtiger Überzeugungen wie auch seine Kritik an einer vermeintlichen harmonischen Ordnung, die verdeckt, dass sie auf Gewalt und Ausschluss basiert – das sind relevante Themen, denen wir uns auch heute immer wieder stellen müssen.
Was führte Sie als Kleist-Forscherin zum Thema „Kleist in Berlin“?
„Kleist in Berlin“ ist aus mehreren Gründen ein spannendes Thema. Der Stadt begegnet man immer wieder und auf verschiedene Weise in Kleists Biografie. Mehrfach hält er sich in verschiedene Rollen in der Stadt auf, mal ist sie Durchgangsstation auf seinem Weg anderswohin. Mal erscheint die Stadt als geselliger Ort, an dem Kleist Gesellschaften besucht, ins Theater geht, tanzt und in Salons Bekannte trifft.
Kleist schreibt geheimnisvolle Briefe aus Berlin, aber auch literarische Annäherungen, dann wieder äußert er sich negativ über das Stadtleben, dann ist Berlin für ihn aber auch die Stadt potenzieller Erwerbstätigkeit im preußischen Verwaltungsapparat, so wenn er sich um eine Stelle im Finanzdepartment bemüht. Sein Zugang zu der Stadt ist also ganz verschieden.
Am Ende ist Berlin auch der Ort, an dem Kleist als Schriftsteller und Journalist auftritt, hier schreibt er und gibt seine Zeitschrift, die „Berliner Abendblätter“, heraus, mit der er aktiv am Großstadtleben teilnimmt und es mitgestaltet. Und schließlich ist Berlin auch die Stadt, in der Kleists Werke erstmals herausgegeben und diskutiert werden.
Vieles bleibt aber auch im Dunkeln oder wird von Kleist bewusst im Dunkeln gelassen, wenn es um Berlin und seine Pläne in der Stadt geht, diese Lücken und Leerstellen waren für mich etwas sehr Faszinierendes an dem Thema „Kleist in Berlin“, so zum einen die Lücken, die Kleist bewusst in Szene setzt, beispielweise die Geheimnistuerei, die er mit seinem ersten Brief aus Berlin betreibt.
Zum anderen gibt es da aber die vor allem visuellen Leerstellen, die Berlin selbst zuzuschreiben sind, da sich die Stadt selbst durch zahlreiche Eingriffe in den letzten 200 Jahren stark verändert hat, Straßen und Plätze existieren nicht mehr oder verlaufen heute ganz anders, was es ebenfalls zum Teil unmöglich macht, Kleists Leben genauer in Berlin zu verorten. Also eigentlich bleibt das Thema „Kleist in Berlin“ zum Teil eine Leerstelle, aber das sagt auch etwas aus über die Stadt, die ja auch so viele Leerstellen hat.
Spannend ist das Thema „Kleist und Berlin“ auch, weil uns Kleist heute noch im Berliner Stadtbild begegnet, fast jeder kennt sicherlich die U-Bahn-Station Kleistpark und wird sich vielleicht gefragt haben, was es damit auf sich hat. Andere Spuren Kleists in Berlin sind versteckt: eine Büste im Viktoria-Park gibt sich nicht so leicht als Kleist-Büste zu erkennen und das Wandbild in der Grunewaldstraße, das Kleist zeigt, war für mich eine Neuentdeckung, obwohl ich regelmäßig an der Straße bin.
Gab es einen bestimmten Anlass, dazu jetzt ein „Frankfurter Buntbuch“ zu schreiben?
Es gab eine Anfrage des damaligen Herausgebers der Buntbuch-Reihe; das Thema lag aber schon lange in der Luft, denn nachdem es 1994 ein Buntbuch zu Kleist in Berlin und Brandenburg gegeben hatte (Neuauflage 2013), war kein Buntbuch mehr zu Kleist erschienen.
Das war für mich gerade in Bezug auf Kleists Verhältnis zu Berlin eine Leerstelle, denn Kleist war, besonders am Ende seines Lebens Teil dieser Stadt und ihrer Gesellschaft, nahm aktiv am Großstadtleben teil und formte es durch sein Schreiben mit, vor allem als Redakteur und Herausgeber seiner „Berliner Abendblätter“, einer der ersten Tageszeitungen im deutschsprachigen Raum überhaupt, aber auch als Theaterbesucher, Salongast und Schriftsteller nahm er an der Herausbildung des Berliner Großstadtlebens teil
Nachdem meine Kollegin Viviane Meierdreeß am Kleist-Museum eine wunderbare Ausstellung zu Kleists „Berliner Abendblättern“ kuratiert hatte, war mir klar, dass die Zeit für das Buntbuch zu „Kleist in Berlin“ gekommen war.
Wie kam die Zusammenarbeit mit Fotograf Günter Karl Bose für das „Buntbuch“ zustande?
Die Zusammenarbeit mit Günter Karl Bose besteht schon seit über 20 Jahren, er ist nicht nur der Fotograf für die Buntbuch-Reihe, sondern auch Gestalter, der die Umschlaggestaltung, die bei jedem Buntbuch individuell ist, entwirft. Es war seine Idee, die Buntbücher mit besonderen Umschlägen und Fotografien anzureichern.
Für die Umschläge greift er oftmals auf Buntpapiere, wie Brokatpapiere, Kleisterpapiere, Marmorpapiere zurück, das sind spezielle, in der Buchbinderei bearbeitete Papiere, die traditionell unter anderem zum Beziehen des Bucheinbandes verwendet werden. Für den wunderbaren blauen Umschlag zu meinem Buntbuch ist passenderweise ein Papier aus dem Jahr 1810, ein Jahr in dem Kleist in Berlin lebte und schrieb verwendet worden.
Welcher der im Buch beschriebenen Orte ist Ihr Kleist-Lieblingsort und warum?
Mir gefällt die Verschiedenheit/Widersprüchlichkeit der Kleist-Orte in Berlin, dieser Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, geschichtsträchtiger Mitte und lebendiger Kiezkultur.
Wenn man beispielsweise am Gendarmenmarkt steht, wo sich zu Kleists Zeit das Nationaltheater befand, in der Nähe zahlreiche Salons stattfanden und Verleger ihre Standorte hatten, ist Berlin eine ganz andere Stadt, als wenn man in die U6 einsteigt, zum Mehringdamm fährt und von dort zum Viktoria-Park mit der Kleist-Büste spaziert – nebenbei: auf den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor zwischen Mehringdamm und Zossener Straße liegen einige Zeitgenossen Kleists, mit denen er auch Kontakt hatte.
Auch die U-Bahn-Station Kleist-Park verkörpert für mich diese faszinierende Überkreuzung verschiedener Schichten, von Vergangenheit, Erinnerungskultur und Stadtleben, die sich für einen kurzen Moment an einem Ort bündeln und dann wieder auseinandergehen.
Was war Ihre spannendste Entdeckung bei der Arbeit am „Buntbuch“?
Meine Lieblingsentdeckung zum Thema „Kleist in Berlin“ ist, wie Kleist selbst in seinen Briefen mit Berlin umgeht, so nutzt er die Stadt seiner Familie gegenüber als Alibi, will, dass alle glauben, er sei dort und bemühe sich um Arbeit, obwohl er eigentlich schon längst anderswo ist und seine nächste Reise plant.
Außerdem hat Kleists Bezug auf Berlin für mich auch eine gewissermaßen literarische Dimension, so schreibt er in einem Brief aus Berlin an seine Verlobte zunächst „Hier bin ich nun in Berlin“ und dann streicht er diese Anwesenheit wieder durch und beschreibt stattdessen poetisch und mit wirkungsvollen Ausschmückungen seine Ankunft in der Stadt.
Mit dieser Bewegung in die Stadt hinein schafft er eine Art literarische Annäherung an Berlin und das war für mich als Literaturwissenschaftlerin auch deshalb spannend, weil wir hier im Briefeschreiber Kleist schon den Schriftsteller erahnen können, dem es auch weniger um klare Zuschreibungen und Verortungen, als vielmehr um Suchbewegungen geht.
Sie erwähnen den Antisemitismus der „Deutschen Tischgesellschaft“ und dass Kleist da teilnahm. Ist darüber mehr bekannt? Zum Beispiel, wie oft er eigentlich da war 1811? Äußerungen über Juden scheinen von Kleist ja nicht bekannt zu sein, oder doch?
Über Kleists Verhältnis zur „Tischgesellschaft“ ist darüber hinaus nichts bekannt, es lässt sich nicht rekonstruieren, ob und wie oft er an den Treffen teilnahm, er selbst äußert sich nicht über eine Mitgliedschafft.
Äußerungen über Juden finden sich bei Kleist im Vergleich zu den vielen antisemitischen Aussagen seiner Zeitgenossen kaum, das wenige deutet in zwei Richtungen: Zwiespältig äußert er sich in einem Brief an seine Halbschwester Ulrike von Kleist von 1801: „In Gesellschaften komme ich selten. Die jüdischen würden mir die liebsten sein, wenn sie nicht so pretiös mit ihrer Bildung thäten.“
Dagegen erwähnt er beispielsweise nach seinem Streit mit Hitzig über das vorläufige Ende der „Berliner Abendblätter“ dessen jüdische Herkunft nicht. Auch in einem Brief an seine Halbschwester Ulrike von Kleist von 1809, in dem er sie bittet, dem Kaufmann Salomon Ascher schuldiges Geld zu zahlen, ersetzt er den Ausdruck „Jude“ durch „Kaufmann“.
Auch bei der Tagung der Kleist-Gesellschaft ging es zuletzt um „Kleist und Berlin“. Gab es dort aus Ihrer Sicht etwas besonders Spannendes? Was hat Sie am meisten interessiert an dem Programm und dem dazugehörigen Kleist-Jahrbuch?
Das Kleist-Jahrbuch erschien vor wenigen Wochen, sicherlich ist dabei auch interessant zu erwähnen, dass darin die neu gefundenen Kleist-Briefe abgedruckt und wissenschaftlich eingeordnet werden.
Die Beiträge der Tagung zu „Kleist und Berlin“ umkreisten die Frage, welche Rolle die Stadt und ihre sich um 1800 herausbildenden Formen von Öffentlichkeit für den Dichter und sein Werk spielten. Besonders spannend war für mich die Einordnung von Kleists Publizistik in den Großstadtkontext: Kleist als „Zeitungsmacher“ war mit seinen Berliner Abendblättern eine Sensation in der lokalen Zeitungslandschaft gelungen.
Interessant waren die Beiträge zu den „Abendblättern“, weil sie zeigten, wie das Journal mit seiner innovativen Journalpoetik eine Nische besetzte, mit der Zensur spielte und als soziales Medium agierte, das die Lebensrealität der Leser*innen miteinbezog.
Deutlich wurde daran auch Kleists Talent als Zeitungsmacher unter den Bedingungen der Zensur, selbst seine vermeintlich unverdächtige internationale Berichterstattung folgte, wie ein Beitrag zeigte, einer Strategie, mit der Kleist durch die Auswahl und Kombination von Themen eigene Akzente setzte.
Wie würden Sie persönlich die Idee der „Frankfurter Buntbücher“ beschreiben? Und welche weiteren würden Sie besonders empfehlen?
Die „Frankfurter Buntbücher“ haben die Beziehung von Dichter*innen zu ihren Orten in Berlin und Brandenburg zum Thema. Es sind literarische Miniaturen, mit einer besonderen Gestaltung: neben der Umschlaggestaltung wird durch die eingebetteten Fotos die Vergangenheit, die Zeit der Autor*innen, mit der Gegenwart, dem heutigen Ort, zusammengebracht.
Persönlich steht für mich dabei die Frage im Zentrum, wie sich ein Ort und seine Gegebenheiten auf einen Autor/eine Autorin und sein/ihr Schreiben auswirken und, welchen Einfluss die Autor*innen wiederum auf den Ort haben, wie sie die Art und Weise prägen, wie er wahrgenommen wird, wie prägt aber auch das Andenken an sie eine Stadt oder Landschaft…
Ein tolles Buntbuch ist in jedem Fall „Die Spazier-Gaenge von Berlin“ zu Anna Louisa Karsch (1722–1791) von Annett Gröschner, denn es beschreibt das Leben einer faszinierenden Autorin, die zudem eine der wenigen schreibenden Frauen im 18. Jahrhundert war, die von ihrer Dichtung leben konnten. Das Buntbuch folgt Anna Louisa Karsch auf ihrem Berufsweg nach Berlin und zeigt, mit welchen Herausforderungen gerade schreibende Frauen damals konfrontiert waren.
Hauptsächlich geht es in den Buntbüchern um Autor*innen des 19. Jahrhunderts, aber aktuell ist die Reihe ins 21. Jahrhundert gegangen, denn Ende September erscheint das neuste Buntbuch von Carola Wiemers zum Leben und Schaffen Günter de Bruyns in seinem Haus im Wald am Blabbergraben.
Was ist ihr nächstes Kleist-Projekt? Gibt es wieder einen Berlinbezug? Aktuell habe ich zusammen mit meiner Kollegin Viviane Meierdreeß die aktuelle Sonder-Ausstellung im Kleist-Museum kuratiert, die den Titel „Experimente. Michael Kohlhaas im Museum“ trägt. In der Ausstellung widmen wir uns mit „Michael Kohlhaas“ einem der bekanntesten Texte Kleists und nähern uns der Erzählung auf verschiedene Weise.
Dabei verbinden wir Kleists „Michael Kohlhaas“ mit der Frage nach seiner musealen Darstellung. Wie können wir einen Text im Museum präsentieren? Wie museale Räume für Kleists Erzählung schaffen? Und wie stellt man überhaupt Literatur aus? Das sind Fragen, die uns in diesem Zusammenhang beschäftigt haben.
Von der klassischen Sammlungspräsentation über das Museum als Ort der immersiven Erfahrung bis zur eigenen Kohlhaas-Geschichte stellen wir Ausstellungs-Experimente vor und laden zum eigenen Experimentieren mit der Erzählung ein.
Nach einem Berlinbezug muss man hier nicht lange suchen: die Erzählung „Michael Kohlhaas“ eröffnete den ersten Band von Kleists Erzählungen, der 1810 im Verlag Georg Andreas Reimer in Berlin erschien. Und der historische Hans Kohlhaase, auf dessen Geschichte Kleists Erzählung beruht, lebte im 16. Jahrhundert in Cölln an der Spree, heute in Berlins Mitte gelegen.