Grand Opéra als großer Reinfall
Am Schluss des Programmhefts stellt der Chefdramaturg seinem Regisseur Fragen: Ob der Überfall auf die Ukraine zu einer Änderung der Sicht auf ein Stück geführt habe, das vom blutigen Aufstand eines Volkes gegen seine Unterdrücker handelt? Nein, sagt Olivier Py, in seiner Konzeption liefere „Les Vêpres Siciliennes“ genau den richtigen Schlüssel, „um die aberwitzige Situation verstehen zu können“.
Der Chefdramaturg gibt zu bedenken, dass die Form der Grand Opéra, mit der Verdi hier spielt, auch Züge großen Entertainments hat und Py zu Ballettmusik tänzelnde Soldaten zeigt. Das könne man auch ironisch sehen, entgegnet der Regisseur, Offenbach habe in seinen Operetten ja auch „militärisches Gehabe“ lächerlich gemacht.
Sieht man die Zurichtung von „Les Vêpres Siciliennes“, muss man feststellen: Das Gespräch kam zu spät, obwohl Olivier Py schon 2017 bei Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ an der Deutschen Oper gezeigt hat, wie man ein Ausstattungsbudget ohne jeglichen Erkenntnisgewinn durchbringen kann. Viereinhalb Jahre danach das gleiche Elend: Überall nur abgestelltes Personal und Chöre, die nie gewichtig werden dürfen, obwohl die Grand Opéra neben allem Pomp durchaus auch zeigt, welche Macht vom Volk ausgehen kann.
Enormer Aufwand, geringer Ertrag
Wer miterleben muss, wie Chor, Extra-Chor und Statisten der Deutschen Oper an einer Straßensperre den Stacheldraht befingern, ist für sofortige Abrüstung beim Bühnenetat. Und: Wer keine Kollektive führen kann, sollte nicht die Ansagen machen (weitere Aufführungen am 26., 31. März. sowie 3., 16., 19. und 25. April).
Wohlfeiles Hantieren mit Maschinengewehren, Fußballspielen mit Köpfen und Vergewaltigungen im schwingenden Takt sollten vom internationalen Bühnenschiedsgericht mit einem Moratorium belegt werden – Ausnahmen, die nachweislich der Aufklärung dienen, ausgenommen. Da müsste Olivier Py dann vorab ein paar Fragen mehr beantworten wollen.
Zu seiner Entschuldigung wird er vorbringen, in seiner Sicht von „Les Vêpres Siciliennes“ die französische Kolonialgeschichte in Algerien thematisiert zu haben. Wer über diese Brücke geht, muss schon extrem schwindelfrei sein. Jedenfalls wird die Trikolore auf eine erbarmungswürdige Art und Weise geschwenkt und kurz vor dem finalen Massaker noch ausgiebig bezupft.
Der Regisseur hat hier bereits bewiesen, dass er es nicht hinbekommt
Das alles ist nicht erst unerträglich, seit Schutzsuchende in Mariupol unter den Trümmern eines Theaters begraben wurden. Der infantile Umgang mit Gewalt marginalisiert das, was die Grand Opéra heutig machen könnte: ihr Gespür für Umstürze, die Vorahnung von Kulturbrüchen, diese unerträgliche Ruhe vor einem Sturm von historischen Ausmaßen.
Die Deutsche Oper hat sich bei ihrem Meyerbeer-Zyklus intensiv mit dem Genre beschäftigt und dem, was es uns jenseits von rein musikarchäologischem Interesse zu bieten hat. Dass das nicht leicht wird, hat dieses Mammutprojekt gezeigt. Dass Olivier Py es nicht hinbekommt, auch.
Die Italianità der Musik steht im Kontrast zur französischen Sprache
Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ ist ein Nachspiel zum Meyerbeer-Abenteuer, weil der Komponist sich hier auf die Regeln der damaligen Weltopernhauptstadt Paris eingelassen und eine Grand Opéra geschaffen hat. Das ist auch der dramaturgische Grund, warum das Stück an der Deutschen Oper in der französischen Originalfassung gespielt wird, obwohl das in unaufgelöstem Kontrast zur klaren Italianità der Musik steht und nicht zu Verdis pointiertestem Umgang mit Sprachrhythmus und -gestus führt. Man muss das nicht haben. Im spürbaren Ausprobieren einer Form aber, die Verdi (noch) nicht voll beherrschte, schlummert Potenzial für die Bühne. Wenn es denn gehoben werden könnte.
Im Orchestergraben bringt Enrique Mazzola dafür die besten Voraussetzungen mit: Als 1. Gastdirigent ist ihm das Orchester der Deutschen Oper vertraut, er hat sich mit ihm höchst achtbar durch den Meyerbeer-Zyklus gearbeitet und dirigiert außerdem regelmäßig den frühen Verdi. Spannung entsteht bei „Les Vêpres Siciliennes“ immer wieder durch die Leerstellen, die Pausen, in denen die unheilvolle Entwicklung nachhallt und sich zugleich verdichtet. So können große dramatische Räume entstehen, ein Drama des Hörens.
Zum Glück gibt es großartige Sängerinnen und Sänger zu hören
Zu Beginn des Abends gelingen Mazzola zu wenig ausgehärtete Klänge, zu wenig präzise Wucht. Vielleicht war er da noch zu sehr damit beschäftigt, das dröge Bühnenarrangement zumindest musikalisch in Schwung zu versetzen. Im zweiten Teil jedenfalls findet die Unausweichlichkeit des Librettos mit ihrem Mix aus Unterdrückung, Liebe und Rache dann auch ihr Pendant in der Musik.
Der größte Pluspunkt bei diesem verrutschten Plädoyer für den französischen Verdi sind die Sängerinnen und Sänger. Thomas Lehman vollzieht als Guy de Montfort einen großen Bogen vom skrupellosen Unterdrücker bis zum – um die Liebe seines Sohnes zitternden – Friedensbringer. Er bleibt auch dann noch vokal stark, wenn er sich in Unterhose unter den Tisch kauern muss.
Seinen Gegenspieler Jean de Procida, der Sizilien um wirklich jeden Preis von der Herrschaft Frankreichs befreien will, schenkt Roberto Tagliavini eine schöne Schwärze. Zwischen diesen beiden mächtigen Egos haben es die Liebenden Hélène und Henri nicht leicht. Hulkar Sabirova umkreist die zentrale Rolle der Rache für ihren ermordeten Bruder fordernden und zugleich liebenden Frau mit Hauchen und Fauchen, ehe sie ihren Platz in Besitz nehmen kann. Piero Pretti als Henri taumelt ständig zwischen den Loyalitäten hin und her, verliert erstaunlicherweise aber nie den schier endlosen Atem seines höhensicheren Tenors. Beglückend für die Deutsche Oper: Sowohl Sabirova als auch Lehman waren einmal Stipendiaten am Haus. Wenn man Regie-Talente doch nur ähnlich aufbauen könnte. Dazu müsste man eine Menge Fragen stellen – rechtzeitig.