Kolumne „Mehrwert“, Folge 32: Du kannst etwas tun, es ist nie zu spät
Ein Jahr ist es her, dass die Mutter gestorben ist. Wir stehen am Grab und stoßen auf sie an, als ein Rotkehlchen sich auf den Grabstein setzt. Es schaut uns unverwandt an, zwitschert sich eins und flattert davon. Ein Gruß aus dem Jenseits, die Mutter war friedlich gestorben.
Zwei Jahre ist es her, dass die jüngste Protestbewegung im Iran begann, nach dem gewaltsamen Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini. Am 7. Oktober jährt sich das Massaker der Hamas in Israel, am 9. Oktober steht der fünfte Jahrestag des Anschlags in Halle im Kalender. Am 9. November feiert Deutschland 35 Jahre Mauerfall. Am 27. Januar ist es 80 Jahre her, dass die Menschen im Konzentrationslager Auschwitz befreit wurden.
Ein pflichtbewusstes Gedenktheater?
Wozu brauchen wir Jahrestage, Totengedenken, den Holocaust-Gedenktag? Können und sollen wir nicht das ganze Jahr über Trauer, Schmerz und Empathie empfinden und die Solidarität mit den Opfern von Unterdrückung, Terror und Völkermord wachhalten? Macht die Fixierung auf ein Datum die Erinnerung nicht klein, entsorgt die Vergangenheit im pflichtbewussten „Gedenktheater“?
Es gibt das altmodische Wort des Eingedenkens. Ernst Bloch nannte es eine Erinnerung an die im Vergangenen schlummernde Zukunft. Walter Benjamin sprach davon, dass das Zitieren der Vergangenheit das Kontinuum der Geschichte aufsprengt und Ereignisse aus der Zeit herausschlägt.
So wird uns der „falsche Frieden der gedankenlosen Selbstzufriedenheit“ geraubt, wie Hannah Arendt die Überlegungen ihres Philosophen-Kollegen weiterdachte.
Die Zeit heilt alle Wunden? Der Schorf bleibt dünn, auch die Narbe schmerzt. So gesehen, sind Jahrestage ein Paradox. Als eine Art Epitaph, eine Versteinerung, ein Beharren darauf, dass die flüchtige Zeit sich anhalten lässt und das Geschehene nicht unaufhaltsam in immer weitere Ferne rückt. Sie verflüssigen die Zeit aber auch, indem sie uns die Vergangenheit direkt vor die Füße katapultieren.
Gedenktage trotzen dem Verdrängen
Also kein Verblassen, keine Milde gegenüber dem Unbegreiflichen. Der Tod bleibt eine Katastrophe, der Terror erst recht, die meisten Geiseln der Hamas sind nicht zurückgekehrt.
Wenn die Politik Waffenruhen verhandelt, muss sie sich dessen bewusst sein: dass Versöhnung das Leid und den Zivilisationsbruch mit einbeziehen muss, dass der Frieden schmerzhaft bleibt, wenn es kein „falscher Frieden“ sein soll.
Am Holocaust-Gedenktag stoppen die Menschen in Israel ihre Autos, halten inne, was immer sie gerade tun. Freeze. Es ist, als ob es gestern gewesen wäre. Das Damals, das Jenseits wird manifest, mitten im Hier und Heute. Gedenktage trotzen dem Verdrängen, sie besagen auch: Du kannst etwas tun, es ist nie zu spät.
Christiane Peitz schreibt in dieser Kolumne regelmäßig über Menschenrechte, Diskriminierung und Zensur.