Amerikanische Rhythmen in der Waldbühne
Es war das erste große Konzert seit 15 Monaten, seit Beginn der Pandemie. Zum 38. Mal feierten die Berliner Philharmoniker ihren Saisonabschluss in der Waldbühne, diesmal mit amerikanischen Rhythmen und unter völlig neuen Bedingungen. Rasch vergessen waren die scheppernden Lautsprecheransagen beim Einlass mit all den Corona geschuldeten Regeln und Regularien, von denen etliche Zugeständnisse waren an die Genehmigungsbehörden, um dieses Konzert als Pilotprojekt überhaupt möglich zu machen, das erste deutschlandweit in dieser Größenordnung.
Rund 5000 Zuschauer statt sonst bis zu 22.000 genossen ein populäres Programm – mit Abstand und Inbrunst. Jazzig ging es los mit drei Tanzepisoden aus Leonard Bernsteins Musical „On the Town“. Schon hier unbefangener Zwischenbeifall, man fühlte sich direkt auf den Times Square des Jahres 1944 versetzt.
Beglückender Klang
Der Himmel über Berlin war aus der Waldbühnen-Perspektive immer besonders schön, wie er sich weit über die Spitzen der Baumwipfel erhebt, die diesen Open-Air-Konzertsaal wie eine kostbare Girlande umgeben. Das immerhin ist noch da. Und auch der beglückende Klang des Orchesters, der nach langer Entbehrung noch betörender wirkte in dieser milden Sommerluft. Kein Babygeschrei diesmal, ein Rettungshubschrauber lieferte kurz das notorische Brummen von oben.
Noch ist Pandemie, noch sind die USA als Reiseland kaum erreichbar. Aber träumend kann man sich schon mal wieder aufmachen im Pas de Deux zur „Lonely Town“. Gleich anschließend ein erinnerungswürdiges Klangfeuerwerk von Martin Grubinger, der zu den besten Schlagzeugern der Welt zählt. Die Suite für Solopercussion und großes Orchester, arrangiert von seinem Vater, enthielt bekannte Filmmusikmotive des fünffachen Oscarpreisträgers John Williams, Star Wars zum Beispiel oder Harry Potter.
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Wie dieser Trommelwirbelwind mit der spielerischen Leichtigkeit und dem breiten Lächeln eines jonglierenden Harlekins gegen die andächtigen, eher dem Drama verpflichteten Streicher anging, ohne sich dabei lautstark in den Vordergrund zu spielen, war schon ganz großes Kino. Die artistische Leichtigkeit schier unerschöpflicher Energie elektrisierte das riesige Waldbühnenrund. Noch mehr ungebremster Jubel. Nach dem langen Entzug wirkt ein so ungewöhnliches Erlebnis doppelt so intensiv.
Angst vor zu viel Tuchfühlung
Es ging dem Veranstalter Peter Schwenkow und der Intendantin Andrea Zietzschmann ja auch darum, das Publikum zurückzuholen in die Live-Arena. Tatsächlich fühlt man sich, so plötzlich wieder in die ganz große Klassik-Gemeinde versetzt, wie frisch aus einer Watteverpackung herausgeholt. Die Sehnsucht ist ja da, drängender und drängender. Aber tatsächlich rausgehen, sich wieder unter viele Menschen trauen?
Sowieso war lange nicht klar, ob das Konzert überhaupt stattfinden konnte. Der Anblick der aus Pandemie-Gründen gewollt luftig besetzten Reihen bei der Live-Übertragung im Fernsehen mag manche Angst vor zu viel Tuchfühlung zusätzlich gedämpft haben. Auch darum ging es an diesem Abend, dem Kulturgenuss einen dringend benötigten Schub Richtung neuer Unbeschwertheit zu verpassen.
Neue Ära in der Waldbühne
Nummerierte Plätze in der Waldbühne, das ist ganz neu. Extra für dieses Konzert haben die Veranstalter das Open-Air-Theater in einen geordneten Freiluft-Saal verwandelt. Und das wird bleiben. Waldbühne, das war ja lange auch die große Freiheit, die Anarchie überbordender Picknicks, während vorne die Weltelite musizierte, ein eigentlich unbeschreiblicher Luxus. Diese opulente Waldbühne wird es so nicht mehr geben. Mit dem Pilotkonzert hat wohl auch eine neue Ära begonnen.
Für den Dirigenten Wayne Marshall stellte dieser Abend ein besonderes Jubiläum dar. Beim Waldbühnenkonzert 1995 hatte der Brite mit den Berliner Philharmonikern an diesem Ort als Pianist debütiert. Und diesmal, genau 26 Jahre später, aber unter völlig anderen Bedingungen, war es sein erster Einsatz als Dirigent. Gleichzeitig trat er aber auch wieder als Solist auf. Mit präzisem Temperament ließ er bei George Gershwins „Rhapsody in Blue“ Klassik und Jazz verschmelzen zu einem Lockruf aus der Neuen Welt.
Soundtrack vor blauem Hintergrund
Dann noch Leonard Bernsteins „On the Waterfront“, eine Symphonische Suite vor blauem Hintergrund, Erinnerungen an den Soundtrack des gleichnamigen, vielfach ausgezeichneten Films von 1954, der im Deutschen den etwas dämlichen Titel „Die Faust im Nacken“ trug.
Natürlich muss es Zugaben geben bei so viel enthusiastischem Beifall. Erst die Ouvertüre aus „Candide“. Und dann, tatsächlich, es gibt sie noch, die „Berliner Luft“. Da war tatsächlich kein Halten mehr, fast alle schwenkten entzückt ihre Handylampen in den verdämmernden Abend hinein.
„Ein leichtes, ein populäres Programm hatte es geheißen. Warum braucht der Menschen Kultur? Um sich wegzubeamen von der vorübergehenden Schwere des Seins, um in andere Sphären einzutauchen , unter anderem? Mission erfüllt. Oder besser, auf berlinisch gesagt: Da konnte man nicht meckern.