Als die Maler wild geworden
Stürmisch ging es zuletzt rund um das Brücke-Museum zu. Nicht alle Freunde dieses so besonderen, einer einzigen Künstlergemeinschaft gewidmeten Hauses goutierten die Untersuchungen, die an den Reisebildern der beiden Südsee-Fahrer Max Pechstein und Emil Nolde vorgenommen wurden und den mangelnden Blick der beiden auf die kolonialen Verhältnisse kritisierten. Das betraf das Jahr 1914, das zugleich das Ende kaiserlich-deutscher Kolonialambitionen markierte.
Vier Jahre zurück auf 1910, und es herrscht ungetrübte Aufbruchstimmung, jedenfalls bei den Mitgliedern der Künstlergruppe Brücke. Fünf Jahre zuvor hatten sie sich zusammengetan – Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl-Schmidt-Rottluff – und traten, unterdessen um Max Pechstein und schließlich Otto Müller ergänzt, 1910 mit Aplomb auf die nationale Bühne.
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Dieses eine Jahr will die neue Ausstellung des Brücke-Museum zeigen: in den Werken, die damals entstanden, und dem historischen Umfeld, in dem sich die Künstler bewegten und ihre Kunst schufen. „Nicht verklärt möchten wir zurückblicken auf das Jahr 1910, sondern mit wachen Augen“, schreibt Museumsdirektorin Lisa Marei Schmidt im Vorwort der Ausstellungszeitung, „die jedoch durch etwas verschwommene Gläser schauen, denn wir können den Künstlern nur durch historisch Überliefertes wie Selbstzeugnisse, Briefe und natürlich ihrer Kunst nahekommen.“
Selbst auf Postkarten und Notizzetteln wucherte die Kunst
Mag sein, dass die Gläser, von denen die Direktorin metaphorisch spricht, den Blick etwas trüben; zumindest bewirken sie, dass dieser Ausstellung die Kälte abgeht, die einen, so man die Brücke-Bilder liebt, in der Kolonialismus-Ausstellung frösteln machte. Diesmal ist im Gegensatz dazu die Lebensfreude zu spüren, die aus den Bildern spricht und ebenso aus den erwähnten Selbstzeugnissen, dem beständigen Miteinander in Postkarten und Notizen, der Lust am Ausschöpfen der eigenen künstlerischen Möglichkeiten, der Freude an Farbe, Linie und Form.
Unter diese drei Begriffe, die den Expressionismus der Brücke wie alle Kunst kennzeichnen und verständlich machen, ist die Längswand in der hinteren Raumflucht des so wundervoll intimen Museums gestellt. 43 Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken sind dort in dichter Fülle hinkomponiert; eine Augenweide, in der das einzelne Werk zurücktritt zugunsten des unmittelbaren Eindrucks des reichen Ertrags, den dieses eine Jahr der Brücke brachte.
Nolde wird ein wenig schamhaft einbezogen
Darin eingewoben sind auch drei Gemälde des ältesten und auf ehrerbietige Aufforderung der Jüngeren hin beigetretenen Gruppenmitglieds, Emil Nolde. Nach all der vernichtenden Kritik, die Nolde wegen seiner späteren Nähe zur Nazi-Ideologie zuteil wurde, ist diese, wenn auch ein bisschen schamhafte Einbeziehung seiner Bilder und damit seines Anteils am Brücke-Expressionismus das mindeste, das das Museum der historischen Wahrheit schuldig ist.
Im Jahr 1910 stellten die Brücke-Genossen zwei Mal gemeinschaftlich aus, in der Reichshauptstadt Berlin im Salon der „Neuen Secession“ mit weiteren „Zurückgewiesenen der Secession Berlin“ – denn da waren die „jungen Wilden“, als die sie sich sahen, von den Arrivierten um Impressionisten-Haupt Max Liebermann ausjuriert worden. Vor allem aber traten sie als Gruppe auf, als „KG Brücke“ in der renommierten Galerie Arnold ihrer Gründungsstadt Dresden.
Selbstbewusster konnte der Auftritt der jungen Künstler nicht sein
Arnold hatte seine Räume in der Schloßstraße 34 schräg gegenüber dem Residenzschloss; selbstbewusster konnte der Auftritt der jungen Künstler – Kirchner als ihr Ältester war gerade 30 Jahre alt – nicht sein. Der damalige Katalog, heute ein Rarissimum, zeigte als Abbildungen Holzschnitte, die die Künstler wechselseitig von ihren Werken angefertigt hatten, und der so zugleich auf die Reproduktionsgrafik als den zweiten mächtigen Bereich ihres künstlerischen Schaffens verwies.
Dieser Dresdner Auftakt des Jahres 1910, vermehrt um die zur selben Zeit im Fischerdorf Dangast an der Nordsee entstandenen Arbeiten Schmidt-Rottluffs, wird im ersten Raumgefüge des Museums gezeigt. Da gehen Bilder, Schriftzeugnisse und Fotografien genau jenes simultane Durcheinander ein, das der Lebenssituation entspricht und nicht zuletzt der absoluten Gleichrangigkeit, mit der die Künstler Gemälde malten – aus Materialmangel gerne beidseitig, wie vor allem Kirchner. Oder Postkartenillustrationen, wie Erich Heckel, der einen „Ananas-Esser“ auf das winzige Format tuschte und an den großen Gönner Gustav Schiefler sandte, zum Dank für eine als Geschenk empfangene Ananas.
Die komplette Ausstellung stammt aus Museumsbestand
Es sind nicht zuletzt diese kostbaren Kleinigkeiten, die die neue Ausstellung – übrigens komplett aus eigenem Museumsbestand – so beglückend machen. Kirchners lässige und dennoch topographisch korrekte Bleistiftzeichnung von Dresden-Neustadt mit dem Reiterstandbild Augusts des Starken, seine in wenigen Strichen traumhaft sicher hingeworfenen Tanzszenen, Schmidt-Rottluffs in kraftvollen Farbakkorden geradezu berstenden Dangast-Gemälde, deren einer Titel „Deichdurchbruch“ geradezu als Selbstbeschreibung zu lesen ist.
Und dann sind da, quer durch den Museumsraum, die Gemälde der Mädchen in schwarz-gelb geringeltem Trikot, die die Künstler als Modell unablässig zeichneten und malten, was in jüngerer Zeit zu manch unschönen Spekulationen Anlass gab, die sich gottlob als haltlos herausgestellt haben.
Für Kirchner gab es „nichts Reizvolleres als Akte im Freien“
Ja, auch und zumal Akte haben die Brücke-Künstler, die mit Ausnahme des spät hinzugetretenen Otto Mueller keinerlei kunstakademische Ausbildung durchlaufen hatten, in Hülle und Fülle gezeichnet und gemalt. In ihrer Dresdner Zeit fanden sie sich in paradiesischer Unschuld an den nahen Moritzburger Teichen zusammen, über die Kirchner bekannte, es gebe „nichts Reizvolleres als Akte im Freien“.
Dem Thema Akt ist denn auch ein weiterer Raum des Ausstellungsrundgangs gewidmet, der die anti-akademische Neuartigkeit herausstellt: nicht länger auf mythologische oder bibelhistorische Vorgaben zu setzen, sondern einfach die Bewegung des Körpers, ja eigentlich die unbeobachtete Bewegung der sich räkelnden und drehenden Modelle in den Blick und den Zeichenstift zu nehmen.
Die Künstler zog es in den Zirkus, ins Varieté und Völkerkundemuseum
Die Neugier, mit der die Künstler in Zirkus, Varieté, Völkerkundemuseum, zu Unterhaltungen aller Art und Güte eilten, kommt ebenfalls zur Ansicht, doch ohne denunziatorischen Unterton. Es ist 1910 und nicht 2022. In Berlin versammelt sich 1910 eine Riesendemonstration gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, die deutschen Winzer beklagen eine Missernte, es gibt bereits eine Million Fernsprechanschlüsse.
[Brücke-Museum, Bussardsteig 9, bis 28.8; Mi bis Mo 11 – 17 Uhr. Zeitung 5 €.]
All das ist in der kaleidoskopartigen Ausstellungszeitung nachzulesen, einer Materialsammlung so kurzweilig wie die Ausstellung selbst. Zu entdecken ist, was der hellsichtige Kritiker Paul Fechter über die Dresdner Brücke-Ausstellung schrieb: „Man sieht ein Suchen, Zeitgenössisches, Gegenwärtiges in seiner traditionsfreien Gestalt zu formen – in einer kühnen, schnellen Abkürzung.“ Diese kühne Abkürzung zwischen Motiv, Bild und Betrachter sind die Brücke-Künstler gegangen, ja eher gesprungen, voller Begeisterung über sich selbst. Diese Begeisterung ist es, die die Ausstellung mitteilt. Sie ist rundum gelungen.