Was Exil bedeutet: Ein literarischer Abend in Schloss Bellevue

Da sitzt er mit seinen 100 Jahren, die Katze auf dem Schoß, und sagt in seiner unverkennbaren, über die Satzenden hinwegatmenden Sprachmelodie, dass es für Tiere im Gegensatz zu Menschen ja selbstverständlich sei, geliebt zu werden. Ein Mann, den es durch die halbe Welt getrieben hat, von Brünn nach Wien, und auf der Flucht vor den Nazis zurück in die Tschechoslowakei, weiter nach Frankreich und schließlich in die USA, wo man ihn zur Army einzog und nach Deutschland mitnahm, wo er, der österreichische Jude, sich an der Befreiung des KZ Dachau beteiligte, bevor er sich in Paris niederließ.

Georg Stefan Troller weiß vielleicht nicht, was Heimat ist, aber er weiß, was es heißt, keine zu haben. „Emigration“, erklärt er in Ruth Riesers Filmporträt „Auslegung der Wirklichkeit“, sei „der Verlust der Benamsung der Dinge“. Erst durch die Gespräche vor laufender Kamera, die er in der ZDF-Reihe „Personenbeschreibung“ zu einer eigenen Kunstform entwickelte, habe er sich die Welt zurückerobert: „eine Selbstheilung von außen nach innen“.

Eine ganze Reihe von denen, die am Mittwochabend auf Einladung des Bundespräsidenten in Schloss Bellevue zusammenkamen, um über „Verlust und Zuflucht“ zu sprechen, mögen Troller in diesem Filmausschnitt zum ersten Mal begegnet sein. Aber sie werden in seinen Erfahrungen etwas von den ihren erkannt haben: das Ringen um eine Sprache, die auch dem Polyglottesten im Zerfall von Wort und Wirklichkeit abhandenkommen kann.

Lücke in der Erinnerungskultur

Denn Exil ist, wie Frank-Walter Steinmeier betonte, eine menschheitliche Urerfahrung, die alle drei monotheistischen Religionen verbindet. Und sie liegt, wie Herta Müller im Blick auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Dichterin Nelly Sachs illustrierte, noch vor jener der Heimatvertreibung, die das Dokumentationszentrum am Anhalter Bahnhof würdigt. Das geplante Exil-Museum müsse von daher eine „Lücke in der Erinnerungskultur“ schließen.

Deutschland kommt angesichts der eigenen Vergangenheit jedenfalls eine besondere Verantwortung zu. Es steht nun vor der Aufgabe, sich mit dem Schicksal eines Syrers wie Yassin al-Haj Saleh auseinanderzusetzen. Saleh, der als Mitglied des demokratischen Flügels der Kommunistischen Partei, 16 Jahre in Baschar al-Assads Gefängnissen einsaß und über Istanbul nach Berlin gelangte, wo er drei Jahre lang Fellow des Wissenschaftskollegs war, verknüpfte in seiner bewegenden Rede die Themen von Haft und Exil als unterschiedliche, einander aber doch zugeordnete Seiten eines Bemühens, sich inmitten eines rechtlosen Daseins eine Zukunft zu erschaffen. Die junge Ukrainerin Kateryna Mishchenko, neuerdings Fellow am Wissenschaftskolleg, ist, angefangen beim Wort Exil selbst, noch dabei, sich ein dafür geeignetes Vokabular zurechtzulegen.

Mythos und Metapher

Im Spannungsfeld von „Mythos, Metapher, Wirklichkeit“, das die Türkin Aslı Erdoğan beleuchtete, ist Exil als eine Realität, die es immer wieder neu zu deuten gilt, ohnehin eine unabschließbare Aufgabe. Der 1984 geborene Tamile Senthuran Varatharajah, heute ein namhafter deutscher Schriftsteller, der als Kleinkind mit seiner Mutter vor dem srilankischen Bürgerkrieg nach Deutschland floh, sprach beim Nachdenken über „Rätsel und Ankunft“ mit dem ihm eigenen philosophisch-theologischen Pathos bewusst von einem mehrfachen „Wunder“, das ihm angesichts seiner jahrelangen Odyssee widerfahren sei.

„Häng kein Schloss an meine Lippen / Denn ich habe in meinem Inneren eine unerzählte Geschichte“, sang auf Persisch, klanglich hineingeschmiegt in Mona Matbou Riahis Klarinette, Cymin Samawatie in ihrer Vertonung eines Gedichts der großen iranischen Poetin Forough Farrokzhad. An diesem Abend waren die Ohren so groß, dass die Zuhörer auch Unausgesprochenes erreicht hätte.