Romulus, Remus, Rodeo
Ein halbes Dutzend Cowboys schleppt einen Stutzflügel ins Herrenhaus der Burbank-Brüder, irgendwo in der Prärie von Montana. Unweigerlich stellt sich die Erinnerung an „Das Piano“ ein, jenen Film von Jane Campion über eine Witwe, die es im 19. Jahrhundert mit ihrem Flügel in die Wildnis von Neuseeland verschlägt. Campion gewann damit als erste Regisseurin die Goldene Palme, vor 28 Jahren.
Das Setting in „The Power of the Dog“ ist zunächst ähnlich. George (Jesse Plemons) möchte seiner frisch angetrauten Ehefrau Rose (Kirsten Dunst, die auch im wirklichen Leben mit Plemons verheiratet ist) eine Freude machen. Die Witwe hatte zuvor ein Gasthaus für Cowboys betrieben, eine Arbeit, die sie kaum bewältigen konnte, obwohl ihr scheuer Sohn Peter beim Kellnern half.
Jetzt möchte George sie verwöhnen. Und er möchte, dass sie Klavier spielt, wenn der Gouverneur und seine Gattin zum Dinner kommen. Aber Rose kommt schon beim Üben nicht über die ersten Takte des Radetzkymarschs hinaus.
„Das Piano“ erzählte vom Prozess der Zivilisation im 19. Jahrhundert, von einer Frau, die ins Weiblichkeitskorsett ihrer Zeit gedrängt wird und sich auf sehr eigene Weise dagegen verwahrt. „The Power of the Dog“ ist im amerikanischen Westen der 1920er Jahre angesiedelt, und wie Holly Hunter im „Piano“ verkörpert auch Kirsten Dunst eine zarte, blasse, bei aller porzellanenen Fragilität dennoch tapfere Frau, die sich zwischen Ranchern und Rinderherden zu behaupten versucht.
Wenn die hungrige Männerhorde in ihr Gästehaus einfällt, angeführt von Phil, Georges raubeinigem, sadistischem Bruder (Benedict Cumberbatch), zeigt Campion die Männer aus Rose’ Perspektive, von der Küchentür aus. Die Tür markiert die Grenze zwischen den Geschlechtern – bis George sie überschreitet und die Küche betritt. Ein sanfter Kerl, der registriert, in welchem Maß sein grober Bruder die Wirtin verletzt.
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Erneut versteht Campion es, eine Gesellschaft zwischen Wildnis und Zivilisation zu porträtieren. Phil kastriert Rinder, trägt Fellhosen und Cowboyhut, George fährt Automobil, trägt feinen Zwirn und Bowler. Nur dass die neuseeländische Regisseurin das Beziehungsgeflecht diesmal in ein grandioses Westernpanorama einbettet.
Drinnen das Kammerspiel im eichenholzvertäfelten, opaken Familiensitz mit Elchtrophäe und Ölschinken an der Wand; draußen ein mystisches Bergpanorama (Kamerafrau Ari Wegner). Steppengras im Wind, dramatische Wolkengebilde, Seelenlandschaften: Nach der Weltpremiere auf dem Filmfest Venedig, wo Campion den Regie-Löwen gewann, wurde ihr Film mit Terrence Malicks „Days of Heaven“ verglichen.
Die toxische Männlichkeit, der einfühlsame Ehemann, der feminine Sohn: lauter komplexe Männerbilder
Aber es geht bald kaum noch um Rose, um ihr Fremdsein in der Rancher-Welt wie im aufstrebenden Pionier-Bürgertum. In ihrer ersten Netflix-Produktion nimmt die für ihre Frauenbilder – in „Ein Engel an meiner Tafel“, „Portrait of a Lady“ und zuletzt im Kino vor zwölf Jahren in „Bright Star“ – gefeierte Regisseurin die Männlichkeit in den Blick und versammelt Männerbilder, die in ihrer Komplexität jedes Stereotyp Lügen strafen. Da ist die toxische Männlichkeit Phils, seine Virilität, sein gebrochener Machismo. Da ist der einfühlsame, gleichwohl ehrgeizige George – zwei ungleiche Brüder, die sich ein Zimmer teilen, als liege ihre Kindheit nicht über zwei Jahrzehnte zurück. Der eine steigt in die Badewanne, der andere schert sich nicht um seinen Körpergeruch, badet im Teich, nachdem er sich mit Morast eingeschmiert hat.
Vor allem ist da Roses zarter Sohn Peter, der mit feingliedrigen Händen zauberhafte Papierblumen bastelt, als Medizinstudent aber auch ungerührt Kaninchen seziert und sich von Phil das Reiten beibringen lässt. Peters Erbe ist ein männliches Versagen: Sein Vater, selbst Arzt, hatte sich das Leben genommen. Aber der Spott der Cowboys – die auch mal nackt im Fluss herumtollen und sich auf Pferderücken räkeln – irritiert den stillen, selbstbewussten Jungen kein bisschen. Der 25-jährige Australier Kody Smit-McPhee spielt ihn mit umwerfender, unergründlicher Nonchalance.
Verschattete Gesichter. Das Muskelspiel der Pferde. Kerzenlicht auf Wangenknochen. Der Schattenriss eines bellenden Hundes auf der Bergkuppe. Campion, die das Drehbuch nach dem gleichnamigen, wenig bekannten Roman von Thomas Savage verfasste, erkundet Körper, Leiber, Erotik.
Die Forderung nach mehr Diversität im Kino münzt sie auf das traditionelle männliche Heldenbild um und misst die ganze Bandbreite aus: unterdrückte Sexualität, erwachendes Begehren, offene Homosexualität, fluide Identitäten. Romulus, Remus, Romeo, Rodeo, all diese Begriffe fallen. Campion setzt sie in Bewegung.
Phänomenal, wie Benedict Cumberbatch ungeahnte Facetten seiner Schauspieler-Persona aktiviert
Auch Phil ist bei weitem nicht bloß ein Macho, wie sich herausstellt. Er hat in Yale Altsprachen studiert, kann den Radetzkymarsch auf dem Banjo virtuoser intonieren als Rose auf dem Klavier, und er trauert seinem vor 20 Jahren gestorbenen Cowboy-Mentor Bronco Henry nach. Phänomenal, wie Cumberbatch ungeahnte Facetten seiner Schauspieler-Persona dafür aktiviert. Broncos Sattel als Fetisch, Eifersucht, zarte Bande zwischen Peter und Phil, es ist wie mit dem Hundekopf in den Hügeln, den nur die beiden wahrnehmen. Nichts ist, was es scheint. Bis sich das Verborgene im fünften Kapitel der Erzählung schließlich mit Macht Bahn bricht.
[Ab Donnerstag in Berlin im Kant Kino, Intimes, Odeon, Off-Kino, Filmtheater am Friedrichshain, OmU im Delphi Lux. Auf Netflix ist “The Power of the Dog” ab 1. Dezember zu sehen.]
In ihrem Sittengemälde hat die 67-jährige Filmemacherin nämlich auch einen Krimi versteckt. Campion deutet an, irritiert, legt Fährten aus. Die Rinderkrankheit Anthrax spielt eine Rolle, das Seil, das Phil aus Kuhhaut-Bändern flicht, welche Peter mit beschafft; die Zigarette, die die beiden sich teilen. Schon der Filmtitel erweist sich als Enigma, bezieht er sich doch nicht nur auf den Hunde-Schattenriss, sondern auch auf ein Zitat aus den biblischen Psalmen: „Entreiß mein Leben dem Schwert, aus der Gewalt der Hunde mein einziges Gut!“
Ausgerechnet Peter, der vermeintlich Schwächste im Männer-Trio von „The Power of the Dog“, vollbringt einen sublimen Gewaltakt. Bereits im Vorspann-Voiceover hatte er sich geschworen, seiner Mutter zu helfen.
Drei Männer, eine Frau. Schade, dass es bei aller Vielfalt der Männlichkeitsmodelle und aller Sinnlichkeit der Bilder doch auf einen recht klassischen Plot hinausläuft. Rose zerbricht beinahe am kalten Spott Phils, sie verwahrlost, wird zur Trinkerin. Bis Peter in den Semesterferien auf die Ranch kommt und für eine dramatische Wendung sorgt. Am Ende ist es wieder die alte Mär von der Frau, die von einem Mann gerettet werden muss. In „Das Piano“ war Jane Campion schon einmal weiter.