Immer mehr Menschen lernen Ukrainisch – toll!
4. Mai 2022
Ich verstehe ihn nicht. Das ist mir ein bisschen peinlich, denn dieser ältere, freundliche deutsche Herr, der zu meiner Lesung in Gelsenkirchen gekommen ist, strengt sich offensichtlich an, um mir etwas zu sagen – aber das Gesagte kommt mir unbekannt vor.
Erst als er es wiederholt, wird’s mir klar: Sdrawstwuite! Er hat mich auf Russisch begrüßt! Achso. Mir, einem seit 27 Jahren in Deutschland lebenden Ukrainer, im dritten Monat des russischen Krieges gegen die Ukraine bei einer Lesung aus dem Buch über jüdische Musik auf Russisch Hallo zu sagen – er glaubt anscheinend, es sei eine gute Idee. Ich bin ganz anderer Meinung.
Meiner Muttersprache russisch gegenüber empfinde ich manchmal Scham
In den letzten zwei Monaten denke ich oft über Sprache nach. In den Sozialen Medien sehe ich immer wieder, dass Dolmetscher und Übersetzer für Ukrainisch gesucht werden. Denn natürlich spricht die absolute Mehrheit der hierher gekommenen Flüchtlinge kein Deutsch.
Ich kann mich gut erinnern, wie es mir 1996 ging, meine ersten Monate in Deutschland waren ganz schwierig. Ich konnte zwar Englisch, aber in Potsdam, wo ich gelandet war, sprach es keiner, außer mir – war zumindest mein Eindruck. Wie gut ich diese Mischung aus Hilflosigkeit, Verzweiflung und Scham kenne, wenn man sich nicht artikulieren kann!
Es ist toll, wenn meine deutschen Mitbürger*innen realisieren, wie notwendig es ist, den Ukrainer*innen hier die Möglichkeit zu geben, die wichtigen Informationen auf Ukrainisch zu bekommen. Dass jeder Ukrainer russisch spricht, ist ein veraltetes Konzept, sein treuester Anhänger heißt Wladimir Putin und wenn es nach ihm ginge, hätten alle Ukrainer nichts außer russisch gesprochen. Um genau das zu erreichen, investiert er Milliarden Dollar und Tausende Soldatenleben in den Krieg, den er heute in der Ukraine führt und nicht gewinnen kann.
Russisch ist meine Muttersprache, aber in den letzten Jahren musste ich oft feststellen, dass die ukrainische Version und die russländische Version sich immer stärker voneinander entfernen. In der Ukraine spricht man anderes russisch, es entwickelte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion anders als im Nachbarland, hat auf die Ereignisse und Prozesse in der Gesellschaft reagiert, die in russland teilweise nicht stattgefunden haben.
In der Ukraine zum Beispiel ist die sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter inzwischen etwas Gängiges und Selbstverständliches, während Bürger*innen russlands es überwiegend blöd finden. Ich weiß noch, wie sich ein Bekannter, ein Moskauer Musikkritiker, auf Facebook darüber aufgeregt hat. Die gleiche Reaktion zeigten seine zahlreiche Freunde in den Kommentaren. Das muss 2019 gewesen sein, ich war sehr verwundert.
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Wenn ich Ukrainern zuhöre, merke ich, wie die letzten zwei Monaten ihre Sprache verändert haben. (Ich möchte zuerst „bereichert“ schreiben, aber wer wünscht sich schon solche „Bereicherung“?!) Es gibt nun Dutzende Synonyme zu Substantiven wie „Bombe“, „Rakete“, „Schutzbunker“, „Tod“ oder „Feind“. Meiner Muttersprache russisch gegenüber empfinde ich manchmal Scham. Ich möchte nicht mit den Menschen assoziiert werden, die gerade vergeblich versuchen, meine Heimat zu denazifizieren, ich will so wenig wie möglich mit ihnen gemein haben.
Mich faszinieren Leute, die angefangen haben, Ukrainisch zu lernen, in meinem Freundeskreis gibt es immer mehr davon. Vorgestern schrieb mir Anthony Coleman, ein Musiker aus New York, den ich seit den Neunzigern verehre. Wir kannten uns bisher nicht, aber letzte Woche meldete er sich bei mir, als er meinen Aufruf auf Facebook gelesen hat. Ich sammelte Kompositionen für eine Compilation „Jewish Voices Condemn russia’s War Against Ukraine“.
Anthony hat mir ein Stück geschickt, in dem Phrasen auf Ukrainisch vorkommen. Ich wunderte mich und fragte ihn, wer sie rezitiert und war überrascht, zu lesen, dass es seine Stimme ist. Er nimmt zweimal die Woche Ukrainisch-Unterricht.
„Spasibo, do swidanja!“ möchte mir der Lesungsgast in Gelsenkirchen am Ende meiner Veranstaltung noch sagen. „Danke, auf Wiedersehen!“ – „Tod unseren Feinden!“ auf Ukrainisch hätte ich auf jeden Fall passender gefunden.
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