„Unsere Sportler sind Leuchttürme“
Herr Beucher, am Sonntag feierte der Deutsche Behindertensportverband sein 70-jähriges Bestehen. Wegen der Corona-Pandemie wurde auf das gewöhnliche Fest verzichtet. Was ist Ihnen denn noch von den Feierlichkeiten zum 60. Jubiläum in besonderer Erinnerung?
Die Feier zum Sechszigsten war sehr wertschätzend und emotional. Im ehemaligen Posttelegrafenamt des Kaiserreichs, mit vielen frohgestimmten Gästen, war das aus der Sicht des DBS eine sehr schöne, würdige Feier, die natürlich noch lange nach dem offiziellen Teil weiterging. Man hatte sich bis in die Morgenstunden des anderen Tages viel zu sagen.
Am vierten Juli 1951 gründete sich die „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Versehrtensport“, aus der 1975 der heutige Verband hervorging. 2011, zur letzten Feier, erschien die bundesweit erste kritisch-historische Studie zur Geschichte des Sports für Menschen mit Behinderung. Wie sehr wird sich noch heute mit der Entstehungsgeschichte beschäftigt, in der viele Ämter mit Personen besetzt waren, die eine tragende Rolle im Nationalsozialismus innehatten?
Für uns alle war das eine vorher nicht vorhandene Erkenntnis. Es handelt sich um eine selbstkritische, objektive wissenschaftliche Betrachtung, wie der Behindertensport entstanden ist, wo er seine Ursprünge hatte und wie er in der Zeit des Nationalsozialismus‘ instrumentalisiert wurde und wie nach dem Krieg zum Beispiel ehemalige SS-Sportoffiziere Übungsgruppen übernommen haben. Es gibt auch im Sport keinen politikfreien Raum, aber man kann die gesellschaftliche Verantwortung nicht ausblenden und das ist jetzt zum 70-Jährigen eine Aufgabe, das Hinterfragen fortzuführen.
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Was haben Sie genau vor?
Aktuell besprechen wir unser Vorgehen, da sich durch weitere Recherchen herausgestellt hat, dass noch einige damals Geehrte in den Ehrungslisten des DBS stehen, die auch zum Teil angeklagt, rechtskräftig verurteilt oder in jedem Fall wegen ihrer Taten zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass diese Personen in den Ehrungslisten eines demokratischen Sportverbandes nichts zu suchen haben. Damals, zur Herausgabe der Studie, entschuldigte ich mich öffentlich im Namen des Verbandes bei all denen, denen etwas durch die Taten der entsprechenden Personen widerfahren ist. Als Verband entschuldigten wir, dass wir uns erst so viele Jahre nach Kriegsende mit der Aufarbeitung beschäftigt haben.
70 Jahre später haben sich sowohl die Strukturen des Verbandes als auch die Wahrnehmung und Darstellung des Para-Sports stark gewandelt. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Veränderungen in der Geschichte des DBS?
Der Quantensprung vom Versehrtensport zu einem modernen Sportverband. Es ging um Prävention, Freude an der Bewegung für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Leute, die im Krieg ihr Augenlicht oder andere Gliedmaßen verloren haben, konnten wieder in der Sportfamilie Sport treiben. Aufgrund der damals noch mitschwingenden Nazi-Ideologie kam es in den Anfangsjahren zu kleinen kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Kriegsbeschädigten und Zivilgeschädigten. Heute bekommt jeder Mensch bei uns seine Sportheimat, egal aus welcher Ursache heraus er seine Behinderung bekommen hat. Im Zeitalter der Inklusion und der Umsetzung gesellschaftlicher Teilhabe können bei uns Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam oder einzeln Sport betreiben.
Was ist Ihre Vision einer inklusiven Gesellschaft?
Jeder soll an jedem Ort zu jeder Zeit selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können – und in unserem Fall auch Sport treiben können. Dazu muss man nicht Behindertensportvereine gründen, wir sind sehr erfolgreich auf dem Weg in die Regelsportvereine, die ihrerseits dann Behindertensportabteilungen gründen oder inklusive Sportangebote anbieten. Es gibt so schöne Beispiele: Sitzvolleyball oder Rollstuhlbasketball können auf nationaler Ebene gemeinsam gespielt werden – ob mit oder ohne Behinderung. Auch in der Leichtathletik kann mit oder ohne Prothesen gegeneinander gelaufen werden, wenn im Mittelpunkt die Vergleichbarkeit steht. Wo diese nicht gegeben ist, kann es auch die Freude an der Bewegung sein, die ein Motiv für das Sporttreiben ist.
In England gehört es schon zum Regelfall, dass an den Schulen Rollstuhlbasketball gelehrt wird. Gibt es auch in Deutschland eine Zusammenarbeit zwischen allgemeinen Schulen und dem Verband?
Da ist Deutschland noch eine riesige, weiße Landkarte. Das hängt ursächlich damit zusammen, dass die Kultusministerien der Länder viel zu spät auf die Umsetzung der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention reagiert haben. Es bedarf entsprechender Ausbildungsformate für Sportlehrer. Mittlerweile sind immer mehr Angebote in den Sporthochschulen und den Sportinstituten der Universitäten zu finden, in denen inklusiver Sportunterricht erlernt werden kann. Zu erwähnen ist hier die weltweit erste Paralympics-Professur von Professor Thomas Abel an der Sporthochschule Köln. Aus aller Welt fragen die Leute danach. Das ist ein schöner Teil, aber er täuscht leider nicht darüber hinweg, dass die Sportlehrerausbildung bezüglich eines inklusiven Sportunterrichts bundesweit noch sehr stiefmütterlich behandelt wird.
Die Professur spiegelt wider, welche Kompetenz der DBS im paralympischen Spitzensport schon einnimmt. Um aber auf einem hohen Niveau Sport treiben zu können bedarf es einer ausgiebigen Breitensportförderung. Wie hat sich die Nachwuchsförderung im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelt?
Die Nachwuchsförderung ist neben der komplexen Klassifizierung im Para-Sport eine unserer Achillesfersen. Wir sind noch weit von einer länderdurchgängigen Umsetzung entfernt. Mehrere Länder haben inzwischen aus Nordrhein-Westfalen das Prinzip der Nachwuchsscouts übernommen, die junge Sportler suchen und sie in die Strukturen reinbringen. Die Leistungssportförderung geht über die Bundesverbände, aber die Breitensportförderung ist Ländersache. Zukünftig muss ein stärkerer Fokus auf den Breitensport gesetzt werden und in die Mitte unserer Diskussionen gestellt werden. Der Bundesverband hat die Aufgabe, das Geschehen in den Ländern zu bündeln und entsprechende Initiativen dann deutlich zu machen. Ein großes Projekt war zuletzt die Herausgabe des Handbuchs Behindertensport, das zeigt, wie verschiedene Sportarten von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ausgeübt werden können und welche Anpassungen bzw. praktischen Hilfsmittel dafür benötigt werden. Wir wollen damit einerseits die Menschen mit Behinderung ansprechen und für den Sport motivieren, andererseits auch die Vereine, damit diese sich noch mehr für den Sport von und für Menschen mit Behinderung öffnen.
Das Schaffen von Aufmerksamkeit ist ein wichtiger Bestandteil, um ein Selbstverständnis zu entwickeln, das auch außerhalb der großen Events wie den Paralympics bestehen bleibt. 2017 wurde in Leipzig ein gemeinsamer Konsens beschlossen: Die Rahmenbedingungen für den Sport von Menschen mit Behinderungen sollen weiter verbessert und gleichberechtigt in der Gesellschaft verankert werden. Welche anderen Strategien nutzt der DBS, um seinen Zielen näher zu kommen?
Wir sind in einem aktuellen, sich kritisch hinterfragenden Weiterentwicklungsprozess, der sich „DBS 2027“ nennt. 2017 begonnen, stellt er die Fragen: Wo sind wir? Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Wie finden wir einen Platz in der sich permanent verändernden Gesellschaft? Wo können wir unseren Beitrag leisten? Das können wir nur über Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Wir bedienen noch immer eine Nische im Sport: Während der Fußball-EM scheint es wichtiger, welches Schienbein eines portugiesischen Stürmers ein besseres Schießen verhindert hat, als dass Johannes Floors einen Weltrekord über 200m mit 21,1 Sekunden gelaufen ist. Ich möchte, dass das auch die traditionelle Leserschaft im Print lesen kann.
Wie schafft man es aus dieser Nische heraus?
Wir müssen das immer wieder einfordern, denn die Situation entspricht nicht dem Gleichheitsgrundsatz der Gesellschaft, nicht dem Sport auf Augenhöhe, wie es das Leistungssportkonzept vorschreibt. Auf dem Playbook der diesjährigen Spiele stehen das International Olympic Committee und das International Paralympic Committee nebeneinander. Das IOC hat hier erfreulicherweise den Schulterschluss mit dem IPC gesucht und gefunden. Dennoch gilt: Wir haben schon viel erreicht, aber es ist noch unwahrscheinlich viel Luft nach oben.
Woran merken Sie, dass die gesellschaftliche Anerkennung des Sports für Menschen mit Behinderung gewachsen ist, wie in den übergeordneten strategischen Verbandszielen zu lesen ist?
Über schriftliche Rückmeldungen und bei vielen Begegnungen wird mir gesagt, wie sensationell die Leistungen der Sportler sind. Ich sage heute gerne, dass die Leute früher ‚Paralympics‘ nicht buchstabieren konnten und heute einzelne Athleten mit Namen nennen können. Es sind auch weitere inklusive Veranstaltungen und Projekte in Planung, dank derer ich merke, dass die Wahrnehmung sich verändert hat. Aber auch einschließlich weltweit peinlicher Diskussionen, wie momentan der internationale Leichtathletikverband versucht, Markus Rehm die Teilnahme auch an den olympischen Spielen zu verbieten. Auch die wissenschaftliche Diskussion bezüglich Vor- oder Nachteilen im Parasport ist unentschieden ausgegangen.
Bei den deutschen Meisterschaften der Nichtbehinderten durfte Rehm wegen seiner Prothese lediglich außer Konkurrenz teilnehmen.
Das Sportgericht hat sich eindeutig positioniert und es wird nun versucht, sich über die Definition des Wortes ‚Hilfsmittel‘ aus der Verantwortung zu ziehen. Es ist völlig klar, dass nicht mit Hilfsmitteln gelaufen werden darf. Aber was ist, wenn das Hilfsmittel, das Bein, weg ist? Das ist eine verlogene Diskussion.
Herr Beucher, inwieweit werden im DBS eigentlich psychische Erkrankungen berücksichtigt?
Das ist auch noch ein weites, unbeackertes Feld. Bundesverbände haben mehr die Aufgabe, zu koordinieren und zu initiieren und sind dabei unweigerlich auf die Hilfe und den Support ihrer Organisationen und Strukturen angewiesen. Soweit die Vereine vor Ort und die Landesverbände keine spezifischen Angebote machen, wird das schwierig. Mit den Problemen mussten wir uns im besonderen Maße befassen, als es um die Heimkehrer aus Afghanistan und anderen Kriegseinsätzen kam. Ein Großteil der Sportlerinnen und Sportler, die verletzen Soldaten, hatte unvorstellbare psychische Probleme zu verarbeiten. Es gibt ganz, ganz dünn gesäte Angebote. Ich denke mir aber, dass diese Herausforderung auch aufgrund der Zunahme psychischer Erkrankungen sicherlich innerhalb der nächsten zehn Jahre auf uns zukommen wird.
Im Frühjahr dieses Jahres sagten Sie gegenüber Deutschlandfunk, dass sich der Behindertensport in Deutschland wegen der Coronakrise in einer „fürchterlichen Situation“ befindet. Wie sehr spüren die einzelnen Verbände die Auswirkungen der Pandemie?
Die Coronapandemie hat bei uns richtig reingeschlagen. Momentan geschätzt gehen wir im schlimmsten Fall von 15 bis 20 Prozent Mitgliederrückgang aus. Die genauen Zahlen sind noch nicht veröffentlicht, daher kann ich darüber noch nicht verantwortbar sprechen. Eine Differenzierung der Gründe dafür kommt noch. Klar ist, dass uns die Situation stärker trifft als den olympischen Sport. Bereits im letzten Teilhabebericht der Bundesregierung stieg die Zahl von Menschen mit Behinderung, die keinen Sport treiben, von 46% auf erschreckende 55%. Nun ist Sport keine gesellschaftliche Pflicht, aber Sport ist Freude an Bewegung, gesundheitliche Prävention und nicht nur medizinisch wichtig, sondern fördert auch die Mobilität im Alltag. Zudem fehlt es auch an Barrierefreiheit. Bei einer Bordsteinabsenkung werden die Sinnesgeschädigten völlig außenvorgelassen. Das ist ein Riesenfeld, eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.
In Hinblick auf die Paralympischen Spiele: Glauben Sie, dass die Spiele unter den außergewöhnlichen Umständen dennoch wieder einen positiven Trend im Behindertensport auslösen können?
Ja, natürlich. Unsere Sportler mit ihren ausgewiesenen Spitzen- und Höchstleistungen sind Leuchttürme im paralympischen Sport. Sie erzeugen Nachahmungsbedürfnisse, Anerkennung und bekommen verdienten Beifall. Bis heute bin ich stolz darauf, dass es gelungen ist, die Prämien für Gold-, Silber- und Bronzemedaillen im paralympischen Sport auf die gleiche Höhe mit denen für olympische Sportler zu bekommen. Unsere Sportler können heute, ob Schüler, Student oder im Beruf, mit finanzieller Unterstützung der Sporthilfe, der Bundesministerien und unserer Partner trainieren und ihren Sport weitgehend losgelöst von materiellen Sorgen betreiben. Dabei gehe ich jetzt nicht auf die Verhältnismäßigkeit ein, aber die trifft sowohl den olympischen als auch den paralympischen Sportler.
Wie schätzen Sie die Wahrnehmung der Spiele vor Ort ein?
Uns erwarten leider entseelte Spiele, denn wesentliche Momente fallen weg. Es wird nahezu keine Begegnungen mit Sportlern anderer Nationen geben, außer auf der Wettkampfbahn, in der Halle, auf der Radstrecke oder im Schwimmbecken. Es wird keine Begegnungen mit Japanern geben, keine direkten Kontakte zwischen Zuschauern und Athletinnen und Athleten. Das Kennenlernen anderer Kulturen, fremde Menschen, die sich unterhalten, lachen, sich freuen, leben und lieben: das sind so wunderschöne Begleiterscheinungen von internationalen Wettkämpfen, bei denen die Paralympischen Spiele der absolute Höhepunkt sind. Das fällt alles weg. Aber wenn Sie wissen, wieviel Herzblut, Kraft, Geld und Zeit ein paralympischer Sportler in die Erfüllung seines Lebenstraums, der Teilnahme an den Paralympics, steckt und das über Jahre oder Jahrzehnte oder als kleiner Junge, als kleines Mädchen anfängt, dann muss es unsere Aufgabe als Verband sein, diese Träume zu ermöglichen, wenn es medizinisch und gesellschaftlich verantwortbar ist.
Dank all der Talente, die in Tokio an den Start gehen werden, frei geschätzt nach Ihrem Bauchgefühl, wie viele Medaillen wird das Team Deutschland Paralympics in Tokio mit nach Hause nehmen?
Ich bleibe meinem Grundsatz treu und zähle keine Medaillen. Ich wünsche, dass alle ihre individuellen Höchstleistungen erreichen, dass sie an das hohe Niveau anknüpfen können. Wir spielen oben gut mit und zählen zu den paralympischen Top-Nationen. Ich hoffe, dass es wieder gelingt, unter die ersten 10 dieser Welt zu kommen.