Ungewöhnliche Frauenfiguren im Kino
Im 13. Bezirk blickt man nicht gerade vom Gipfel der Welt herab. Aber für Pariser Verhältnisse hat man aus einem dieser in den späten 1960ern erbauten Hochhäuser eine geradezu olympische Perspektive. „Ich kann von meinem Fenster aus die Seine sehen“, erzählt Nora ihren Eltern aufgeregt am Telefon. „Ich könnte schreien!“
Diese Perspektive in Jacques Audiards „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ist für eine der meistgefilmten Städte des Weltkinos immer noch ungewöhnlich. Im 13. Bezirk mit seinem Hochhaus-Ensemble „Les Olympiades“, erbaut nach den Theorien der Architektur-Ikone Le Corbusier, ist Paris – nur einen Steinwurf vom Eiffelturm entfernt – tatsächlich ein demografisches Abbild der französischen Gesellschaft. Mitte der Siebziger zogen junge Zuwanderer aus Afrika, der Karibik und Südostasien in den ehemaligen Arbeiterbezirk. Die Straßenzüge im Süden heißen im Volksmund „Quartier asiatique“.
Generationenporträt im Hochhaus-Ensemble
Hauptdarstellerin Noémie Merlant, eine gebürtige Pariserin, ist mit dieser wenig touristischen Gegend bestens vertraut. Ihre Schwester und ihre Eltern leben unweit von „Les Olympiades“, erzählt sie im Video-Interview; die Dreharbeiten waren gewissermaßen ein Heimspiel. Als „zauberhaft“ beschreibt sie den 13. Bezirk. „Er ist ganz anders als das Postkarten-Paris, das man aus dem Kino kennt. Die Bevölkerung ist sozial sehr durchmischt, man sieht Streetart an den Wänden. Und es gibt viel Platz.“
In einer ihrer ersten Szenen kauft sich Nora eine Perücke. Merlant erzählt, dass sich der Friseursalon im Viertel befindet; auf solche Details legt Audiard Wert. Mit seiner für den muskulösen Stil des Regisseurs ungewöhnlichen Schwarz-Weiß-Fotografie ist „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ eine Hommage an die Klassiker des französischen Kinos – Beziehungsfilme wie Rohmers „Meine Nacht bei Maud“, in denen viel geredet wird.
Doch die Gespräche der Twentysomethings (die über genug Lebenserfahrung verfügen, um bereits in ihrer ersten persönlichen Krise zu stecken) erinnern eher an amerikanische Vorbilder, wie Noah Baumbachs Stadtneurotikerin-Komödie „Frances Ha“ oder Lena Dunhams Serie „Girls“.
Dieser Sound ist kein Zufall, Audiard hat drei Kurzgeschichten des Brooklyner Zeichners Adrian Tomine adaptiert, der mit seinen Cartoons im „New Yorker“ bekannt wurde. Von dessen lakonischen Hipster-Vignetten zwischen gebrochenen Lebensläufen, Gelegenheitsjobs, „Fuck First, Ask Later“-Beziehungsstatus und Online-Mobbing ist bei Audiard allerdings nur das unterkühlte Porträt einer ziellosen Generation geblieben.
Einzig die Geschichte von Nora erzeugt in der coolen Contenance der Figuren eine emotionale Bindung. Seit ihrer Hauptrolle in Céline Sciammas Liebesfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019) an der Seite von Adèle Haenel gehört Noémie Merlant zu den vielversprechenden Gesichtern des jungen französischen Kinos. Im vergangenen Jahr war die 33-Jährige in Cannes in zwei Filmen zu sehen: in „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ sowie ihrem Regiedebüt „Mi iubita, mon amour“. Und auf der Berlinale spielte sie gerade im Wettbewerbsbeitrag „Ein Jahr, eine Nacht“ ein Opfer des Anschlags auf den Club Bataclan.
Die ungewohnte Aufmerksamkeit, die sie im Moment erfährt, schreibt Merlant Sciamma zu, über die sie wie eine Mentorin spricht. „Ich fühle mich vor der Kamera immer noch schüchtern“, gesteht sie, „aber gerade die Arbeit mit Céline hat mich in meinem Weg bestärkt. Sie gab mir die Chance, mich ganz neu zu zeigen.“ Sie habe dank „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ erstmals auch realisiert, dass man als junge Schauspielerin durchaus eine Wahl hat, welche Rollen man annimmt – und welche besser nicht.
Risiken eingehen in der Schauspielerei
Bei ihrer Wahl beweist Merlant neuerdings tatsächlich Eigensinn. In „Jumbo“ (2020) von Zoé Wittock verliebt sich ihre Figur Jeanne in die bunten Lichter eines Karussells (inklusive einer Sexszene mit Maschinenöl); und in „Mi iubita, mon amour“ spielt sie eine junge Frau, die in ihrem Junggesellinnenurlaub den Avancen eines 17-jährigen Roma nachgibt.
Sehr unterschiedliche Frauenfiguren, die jedoch verbindet, dass sie sich in ihren Begehren weder eingrenzen noch von außen bewerten lassen. Merlant sagt, dass sie sich noch nicht lange in der Position befände, wählerisch zu sein. „Aber mir war es schon immer wichtig, Frauen zu spielen, die sich nicht objektivieren lassen. Davon möchte ich mehr im Kino zeigen.“ Während sie das sagt, beugt sie sich zur Kamera herunter, als beichte sie etwas Vertrauliches. „Ich will bei der Wahl meiner Rollen Risiken eingehen.“
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Dass Céline Sciamma mit Audiard an einem frühen Drehbuchentwurf von „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ gearbeitet hat, erfuhr Noémie Merlant erst, als sie die Rolle von Nora schon angenommen hatte. Wie viel von Sciamma es in die finale Version geschafft hat, weiß sie zwar nicht. „Aber ich habe ihre Ideen und ihre Handschrift beim Spielen gefühlt.“
In jeder Rolle ist etwas von einem selbst
Tatsächlich spürt man in der Nora-Episode, die immer wieder die komplizierte On/Off-Beziehung von Émilie (Lucie Zhang in ihrer ersten großen Rolle) und Camille (Makita Samba) kreuzt, am ehesten Sciammas Sensibilität. Nora kommt aus der Provinz nach Paris, um wieder zu studieren. Aber nach einem Mobbing-Zwischenfall schmeißt sie das Studium und findet einen Job im selben Maklerbüro wie Camille. Abends chattet die einsame junge Frau mit dem Camgirl Amber Sweet (Popstar Jehnny Beth), die auf einer Pornoseite sexuelle Dienstleistungen anbietet. Die beiden kommen sich näher.
Die verschlossene Nora erinnert an Marianne aus „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ – eine Beobachtung, die Merlant nicht von der Hand weisen kann: „Es stimmt, es gibt gewisse Ähnlichkeiten zwischen meinen Figuren. Das ist aber etwas, was ich oft erst im Nachhinein realisiere.“
Sie sagt, dass sich diese Frauen vertraut anfühlen. Aber es sei wohl auch unvermeidlich, dass man immer ein wenig von sich selbst in die Figuren einfließen lässt. „Ich bin eher still und neige dazu, Menschen einfach zu beobachten; das wird mir manchmal auch negativ ausgelegt. Es ist aber nie wertend gemeint.“
Dass sie sich nach zwei Kurzfilmen an ihren ersten langen Spielfilm getraut hat, habe viel mit der Arbeit an „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ zu tun gehabt. Es ist sicher kein Zufall, dass Luàna Bajrami, die dritte Hauptdarstellerin, im vergangenen Jahr ebenfalls ihr Regiedebüt „The Hill Where Lionesses Roar“ in Cannes präsentierte.
Kein Anspruch auf Perfektion
„Céline ermutigt Menschen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, ohne dabei den Anspruch zu haben, perfekt zu sein.“ Noémie Merlant blickt ernst in die Kamera, als sie sagt, dass sie gelernt habe, sich die Freiheit zu nehmen, auch mal das Wort zu ergreifen.
Nicht zuletzt deswegen hat sie mit ihrem Hauptdarsteller und Co-Autor Gimi-Nicole Covaci „Mi iubita, mon amour“ ohne finanzielle Unterstützung gedreht – bevor sie eine Produktionsfirma ins Boot holte. „Als Debütantin ist man leicht anfällig für äußere Einflüsse“, meint sie. „Ich wollte mir bei meinem ersten Film aber von niemandem reinreden lassen.“
Inzwischen sitzt Merlant am Drehbuch des Nachfolgers, einem Thriller mit einem Frauentrio, wie sie verrät. Und sie verfügt heute über genug Selbstbewusstsein, um von Beginn an mit einem Produzenten zu arbeiten. Reinreden wird ihr niemand mehr. Noémie Merlant ist gerade ein Versprechen des französischen Kinos. Nicht nur vor der Kamera.
Seit Donnerstag in den Kinos