Pianist Alexandre Tharaud begeistert in Berlin: Wenn das Kleine ganz groß rauskommt

Der Abend beginnt mit einer Explosion. Dabei ist es doch nur: ein Triller. Der erste Satz der a-Moll Suite aus Jean-Philippe Rameaus „Nouvelles Suites de Piéces de Clavecin“ bietet einige davon, die aus dem zarten Stimmengeflecht der Allemande herausblitzen. Die große Kunst besteht darin, den kleinen Verzierungen differenziertesten Ausdruck angedeihen zu lassen: in explosiv-elektrischen, melodischen, rhetorisch nonchalanten oder auch grüblerischen Ornamenten verschränken sich die Arabesken der wunderbar leicht gezeichneten Linien bei Alexandre THaraud.

Im besten Sinne kurzweilig

Rameau hat die Stücke für das Clavecin komponiert, also für das Cembalo. Tharaud versteht es großartig natürlich, die expressive Musik des französischen Musiktheoretikers und Barockkomponisten auf den modernen Konzertflügel zu übertragen. Ohne markiges Fortissimo oder üppige Pedalisierungen zu scheuen, bleibt er immer elastisch und erzählend. Im besten Sinne kurzweilig ist die 20-minütige Auswahl einiger Sätze der Rameauschen Suite.

Als Kind wollte Tharaud Magier werden. Welch verblüffenden Zauber legt er heute in die repetierten Noten der Allemande: Fast meint man schnelle Flatterechos zu hören, Reflektionen auf der Wasseroberfläche, die gleich zu Beginn des Rezitals in surrealistische Traumwelten entführen. Nicht weniger fantastisch geraten die frei ausgewählten „Lyrischen Stücke“ von Edvard Grieg im Anschluss. Schon in der „Arietta“ aus dem ersten Heft klingt der Flügel ganz anders als noch bei Rameau. Tharaud präsentiert sich als Virtuose der Orchestrierung, der fein geschliffene Klangschichten herrlich polyphon zu interpolieren weiß und die kompositorische Raffinesse der zwölf kleinen Stückchen eindrucksvoll zeigt.  

Verblüffend raffiniert

Ein Missgriff hingegen ist die Wahl der selbst besorgten Klaviertranskription des „Adagietto“ aus Gustav Mahlers 5. Symphonie. Wie entwurzelt wirkt Satz, so der Gesamtheit der urgewaltigen symphonischen Welt entrissen. Der Umstand, dass für Pianisten kein Repertoiremangel besteht lässt hoffen, dass sich der andeutende Trend zu einzelnen Mahlersätzen in Klavierrezitals nicht etabliert.

Überhaupt scheint der Begriff „Übertragung“ wenig treffend, bleibt doch der Eindruck eines Klavierauszuges, eines Notbehelfs zur Darstellung der Partitur. Der steril-starre Klavierklang muss zwangsläufig jeden enttäuschen, dem die reiche Sinnlichkeit der Vorlage im Ohr ist. Das gehört nicht ins Konzert und wirkt überdies deplatziert neben den Stücken Griegs, die so gut gesetzt sind, und „Miroirs“ von Maurice Ravel, einem der visionärsten Klangkünstler des Instruments. Zu den „Spiegelbilder“ Tharauds kann man nur sagen: Das muss man erlebt haben! Sprachlos macht die souveräne Meisterschaft dieses Weltklasse-Pianisten. Keno-David Schüler