Spielfilm „Die jüngste Tochter“: Jung, muslimisch, lesbisch und verliebt

Nach der Englischstunde drängeln die Schülerinnen und Schüler in den Flur. Ein Junge wird von einem anderen als Schwuchtel beschimpft. Der Angesprochene dreht sich zu der Gruppe um, aus der der Spruch kam, und sagt: „Schwuchtel? Eure Freundin ist eine Lesbe. Alle wissen das.“ Damit ist Fatima gemeint, die umgehend auf den Jungen losgeht, ihn schubst, tritt, bespuckt und seine Brille zerbricht. Die Attacke lässt ihn weinend zurück, die Umstehenden sind geschockt. Fatima wird später zu Hause selbst in Tränen ausbrechen.

Ihr Wutanfall auf dem Korridor einer Pariser Vorortschule ist eine der härtesten Szenen in Hafsia Herzis Spielfilm „Die jüngste Tochter“. Dass er so explosionsartig ausfällt, liegt daran, dass Fatima tatsächlich gerade ihr Begehren für Frauen entdeckt.

Weil die algerisch-französische Abiturientin weiß, dass ihre Umgebung diese Gefühle ablehnt, greift sie den Mitschüler an. Dass er wahrscheinlich ebenfalls queer ist, macht das Ganze noch schmerzhafter. Wie toxisch Homofeindlichkeit in der Schule sein kann, ist selten so prägnant im Kino zu sehen.

Dass diese Sequenz wie auch der Rest des Films so stark wirken, liegt hauptsächlich an Nadia Melliti, die Fatima spielt. In Cannes gewann das Werk von Regisseurin Hafsia Herzi die Queer Palm, Melliti wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet. Es war das erste Mal, dass die heute 23-Jährige an einem Film mitgewirkt hat.

„Ich war in Paris in der Gegend um Pont Neuf unterwegs, als mir jemand auf die Schulter klopfte“, erinnert sie sich bei einem Gespräch am Rande des Filmfestivals von Locarno. „Es war die Castingdirektorin des Films, die ich erst für eine Touristin hielt. Sie erzählte mir von dem Projekt und fragte, ob ich Interesse hätte, mitzuwirken.“

Nadia Melliti, Tochter einer algerischen Mutter und eines italienischen Vaters, war damals Sportstudentin, fand die Idee spannend und ließ sich darauf ein. Das dem Film zugrunde liegende autofiktionale Buch von Fatima Daas kannte sie damals noch nicht, war nach der Lektüre aber beeindruckt davon. Sie traf die Autorin, erfuhr mehr über deren Leben und tauschte sich mit ihr über das Skript aus. „Zudem konnte ich beobachten, wie sie sich im Raum bewegt, welchen Kleidungsstil sie hat. Ich habe mich von mehreren Elementen ihrer Persönlichkeit inspirieren lassen“, sagt Melliti.

Im Film trägt sie als Fatima meistens sportliche Klamotten und eine Baseballkappe über den zum Zopf gebundenen Haaren. Was ihr sowohl aus der Familie als auch aus dem Freundeskreis immer wieder Kommentare einbringt, nicht weiblich genug auszusehen. „Wer soll die heiraten?“, ruft eine ihrer beiden älteren Schwestern einmal.

Fatima lässt sich davon nicht beirren, sie spielt auch gern Fußball – eine Leidenschaft, die Melliti in den Film eingebracht hat – und verabredet sich über eine Dating-App mit Frauen. Anfangs verwendet sie einen anderen Namen, will sich vor allem ausprobieren. Doch als sie die Krankenschwester Ji-Na (Ji-Min Park) kennenlernt, öffnet sie sich wirklich, und die beiden werden ein Paar.

Das führt zu einem inneren Konflikt, denn Fatima ist eine gläubige Muslima. Gleich in der ersten Szene von „Die jüngste Tochter“ sieht man sie bei Gebetsvorbereitungen, wiederholt kniet sie im Tschador auf dem Gebetsteppich. Als sie Rat bei einem Imam sucht, verschärft sich ihr Zwiespalt, denn er verdammt Homosexualität.

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Wie liebevoll das Verhältnis zur Mutter ist, die stolz das Abizeugnis ihrer jüngsten Tochter an die Wand hängt, wird in wenigen Szenen prägnant skizziert. Eine davon spielt in der Küche, steht am Ende des Films und bildet dessen emotionalen Höhepunkt. Nadia Melliti spielt das so herzzerreißend, dass man sich wünscht, sie in Zukunft häufiger auf der Leinwand zu sehen.