Der Aufmarsch der Avatare
Wer sich in einen der weichen Planetariumsstühle so weit zurücklehnt, dass der Blick ganz nach oben reicht, genau in den Mittelpunkt der Kuppel, fliegt gleichzeitig nach oben und nach unten in „Grey Interiors“, einer Arbeit des britischen Elektronikers Darren J. Cunningham a.k.a. Actress und dem Künstlerkollektiv Actual Objects. Eigenartige, mal abstrakte, mal an der Realität angedockte Objekte schweben da durch die Atmosphäre, manche bewegen sich, kommen näher.
Das ist bisweilen etwas beklemmend, wenn es sich zum Beispiel um große Roboterarme handelt, die herzhaft an irgendetwas herumknipsen, während köchelnde Klänge zwischen Techno, Neuer Musik und Störgeräusch aus dem Audiosystem wabern. Es beruhigt aber auch, weil man sich in der Schwerelosigkeit sieht, alle Kontrolle abgeben darf, umgeben von – ja, was eigentlich? Weltraumschrott? Den Organen einer hybriden Menschmaschine? Einem Traum?
Es ist die vierte Ausgabe von „The New Infinity“, einer Programmreihe der Berliner Festspiele, die das Planetarium im Prenzlauer Berg zur „Galerie der Zukunft“ machen möchte. Das große Halbrund, in dem Besucher:innen normalerweise einen Blick in den Sternenhimmel werfen können, wandelt sich im Rahmen der Berlin Art Week für drei Tage in einen multimedialen Erfahrungsraum.
[Zeiss-Großplanetarium, Prenzlauer Allee 80, noch bis 19.9.]
Die Idee liegt nahe: Die 30 Meter durchmessende Kuppel umhüllt das Auditorium schließlich, gibt der Videokunst also nicht nur eine sehr große Fläche, sondern auch eine Multidimensionalität, eine visuelle Endlosigkeit mit, die in einem gewöhnlichen Kino nur durch special effects zu erreichen wäre und die gelernte Abstände zwischen Betrachter:in und Kunstwerk auf eine Art auflöst, auf die das sonst nur 3-D-Filme können. Neben „Grey Interiors“, das mit seinen animierten, hypermodernen Bilderwelten vielleicht den besten Dialog mit den technischen und visuellen Möglichkeiten des Planetariums eingeht, wird eine Vielzahl weiterer Arbeiten gezeigt, etwa Patricia Detmerings „Aporia“.
Mit Lichtprojektionen malen
Hier marschieren Avatare durch eine künstliche Welt, die den Charakter handgemachter Stop-Motion-Filme besitzt, diese aber digital abzufedern scheint. Alles ist zwar seltsam zweidimensional, aber eben auch: weich, scheinbar der Schwerkraft trotzend. Was bei Cunningham mit Objekten passiert, geschieht hier mit den Avataren: ein chaotisches, gleichzeitig sehr choreografiert wirkendes Mit- und Gegeneinander; flankiert von einer ähnlich agierenden Tierwelt.
„The New Infinity“ zeigt auch, wie weit die Kunstform des Full-Dome-Videos zurückgeht. „Light Paintings“ von Bill Ham, Kara-Lis Coverdale und Emi Ito ist eine neue Produktion; ihre Ursprünge liegen aber in den 60er Jahren, als Ham begann, mit Lichtprojektionen zu malen. Die Kunst, die entstand, war eng mit der Psychedelic-Bewegung verbunden, begleitete Konzerte von Bands wie Jefferson Airplane oder Grateful Dead.
Die Lavalampenhaftigkeit dieser Lichtgemälde, das träge Ineinanderfließen der Farbbilder mag zunächst ein bisschen aus der Zeit gefallen wirken, nach einer Weile gibt es dem Zuschauer aber das durchaus interessante Gefühl, nicht unter, sondern in einem defekten Kaleidoskop zu liegen. Ein interessantes Gegenmodell ist ebenfalls zu sehen: „MN:P“ stammt von John Whitney, einem Veteran der Computerkunst. Das Stück aus dem Jahr 1995 entstand unter dem Eindruck von Whitneys Begegnungen mit den indigenen Völkern in den südöstlichen USA, es jagt harsche, pixelige Farbfelder über einen sandfarbenen Untergrund und verbindet diese mit unruhigen Synthie-Klängen.
Bei „The New Infinity“ geht es darum, „immersive Erfahrungsräume“ zu schaffen. Wichtig sei aber auch, sagt Tim Florian Horn, Präsident der Stiftung Planetarium Berlin, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass weltweit eine hervorragende, technologisch ausgezeichnete Infrastruktur an Planetarien vorhanden ist, die noch nicht als selbstverständlicher Teil der Kultur gesehen wird.