Die vibrierende Stadt

Könnte man die leuchtenden Primärfarben des Blauen Reiters, die wirbelnden Formen des Futurismus, den orphischen Kubismus Delaunays, die abstrakten Kompositionen Kandinskys und die figurativen Abstraktionen Willi Baumeisters in einem Kaleidoskop vermischen, so müsste ungefähr ein Bild wie Sascha Wiederholds „Bogenschützen“ (1928) dabei herauskommen.

Das geradezu psychedelisch wirkende Bild, das im letzten Jahr mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung für die Neue Nationalgalerie angekauft werden konnte, bildet den Anlass zur ersten Museumsausstellung und Wiederentdeckung eines vergessenen Künstlers.

Seit der Wiedereröffnung der Neuen Nationalgalerie flankieren zwei Bilder im unteren Foyer den Eingang zur Neupräsentation der Sammlung. Beide sind Neuerwerbungen und Wiederentdeckungen der letzten Jahre, die exemplarisch für „Die Kunst der Gesellschaft“ der Zwanziger Jahre stehen.

Während der Ankauf von Lotte Lasersteins Hauptwerk „Abend über Potsdam“ (1930) ein regelrechtes Comeback der nach Schweden emigrierten Künstlerin ausgelöst hat, steht nun mit Sascha Wiederhold ein nahezu unbekannter Künstler der legendären Galerie „Der Sturm“ zur Debatte. Wie es der Zufall oder Zeitgeist will, ist gleichzeitig auch in der Berlinischen Galerie und im Sprengel Museum in Hannover je ein Hauptwerk von ihm zu sehen.

Gleich nach seiner Ausbildung an den Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin begann 1925 die vielversprechende Karriere des 21-jährigen Künstlers in der Berliner Galerie von Herwarth Walden. Dort, am Potsdamer Platz, unweit der Nationalgalerie, hatte der expressionistische Musiker und Literat Walden mit seiner 1912 gegründeten Galerie und gleichnamigen „Zeitschrift für Kunst und Kultur“ (1910-1932) zum Sturm für die europäische Avantgarde geblasen.

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Der programmatische Name stammte von seiner ersten Ehefrau, der expressionistischen Dichterin Else Lasker-Schüler. Und tatsächlich hatte der von Walden ausgerichtet „Erste Deutsche Herbstsalon“ 1913, der mit über neunzig Künstlern zugleich Ausstellung und Kunstmesse für junge, noch nicht etablierte Künstler sein wollte, für einen Sturm der Empörung gesorgt.

Der umtriebige Galerist war so begeistert von dem aus Münster stammenden Wiederhold, dass er ihm nicht nur eine Empfehlung für den damaligen Direktor der Nationalgalerie, Ludwig Justi, auf seine eigene Visitenkarte schrieb, sondern ihm 1925 gleich eine Einzelausstellung ausrichtete. Drei der frühen Bilder von 1924 aus dieser Ausstellung, die „Madonna“ aus der Berlinischen Galerie und die beiden gleichnamigen Bilder „Princesse verte“, lassen bereits die große Ambition des Künstlers erkennen, der sich im selben Jahr mit Nickelbrille und wildem Haar porträtiert hat.

Dabei suchte Wiederhold offenbar weniger nach „Dem Geistigen in der Kunst“ wie Kandinsky oder „Dem Unbekannten in der Kunst“ wie Baumeister, sondern nach dem Wirkungsvollen und Dekorativen im Stil des Art déco. Darauf deutet auch ein erster Bühnenbildentwurf, der ein märchenhaftes Ambiente im Stil russischer Volkskunst zeigt.

Blick in die Berliner Ausstellung: Besucher vor Sascha Wiederholds “Figuren im Raum” (1928).Foto: dpa/Jörg Carstensen

Die dekorative Wirkung steigert sich noch in den großformatigen Hauptwerken: den ornamentalen Mustern der „Tänzer“ (1926), dem abstrahierten Getümmel der „Figuren im Raum“ (1928) und den tanzenden Masten der „Segelboote im Hafen“ (1929). Sie kulminiert in dem großen Bild „Jazz-Symphonie“ (1927), das auf der zentralen Stirnwand das Großstadtleben der „Roaring Twenties“ geradezu vibrieren lässt und eine schöne Blickachse von Berlin nach Paris zu Delaunays „Eiffelturm“ (1928) eröffnet.

Die auf Papier oder Pappe gemalten und dann auf Leinwand kaschierten Bilder lassen tatsächlich eine dekorative Funktion vermuten, wie sie in den grafischen Plakatentwürfen für ein Kostümfest im „Schall und Rauch“ (1925/26) und zum Sturm-Kostümball (1930) genauso evident ist wie in den Bühnenbildentwürfen, die Wiederhold in der Saison 1929/30 für das Stadttheater Tilsit gefertigt hat.

Nur aus der russischen Gefangenschaft sind noch einige Zeichnungen erhalten: Wiederholds letzte Arbeiten

Sein verheißungsvoller Karrierestart endete jedoch abrupt. Nach einer weiteren Einzelausstellung bei Herwarth Walden 1927 und zwei Ausstellungsbeteiligungen in Magdeburg und New York, gab es für ihn bald keine Ausstellungsmöglichkeiten mehr. 1929 musste die Galerie „Der Sturm“ aus finanziellen Gründen schließen, Herwarth Walden emigrierte 1932 in die Sowjetunion.

Daraufhin gab Wiederhold seine künstlerische Laufbahn noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf, um Buchhändler zu werden, was er auch über den Zweiten Weltkrieg hinaus bis zu seinem Lebensende 1962 blieb. Nur aus der Zeit seiner russischen Kriegsgefangenschaft 1945/46 sind noch eine Reihe von Zeichnungen von Figurinen erhalten, die seine letzten künstlerischen Arbeiten darstellen.

[Die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie ist bis 8. Januar 2023 zu sehen. Di – So 10 -18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Der Katalog ist im Verbrecher Verlag für 29 Euro erschienen.]

Eine erste Wiederentdeckung des völlig in Vergessenheit geratenen Künstlers fand Anfang der sechziger Jahre statt, als der Schweizer Sammler und Kunsthändler Carl Laszlo ihn kurz vor seinem Tod im Berliner Telefonbuch aufstöberte. Bis auf zwei kleinere Ausstellungen im Kunstamt Wedding und der Berliner Galerie Werner Kunze Mitte der siebziger Jahre blieb die Resonanz jedoch eher bescheiden.

Erst jetzt, sechzig Jahre nach dem Tod des Künstlers und ein knappes Jahrhundert nach seiner kurzen Schaffenszeit, hat die Erwerbung und prominente Hängung der „Bogenschützen“ für neue Aufmerksamkeit und zahlreiche Publikumsreaktionen gesorgt.

Erstmals konnte Dieter Scholz nun Leben und Werk Sascha Wiederholds anhand von Quellenmaterial rekonstruieren, das hauptsächlich aus einem kleinen Konvolut aus dem Nachlass des Künstlers in der Berlinischen Galerie stammt. Alle 79 derzeit bekannten Werke sind im Katalog dokumentiert, 64 davon in der Ausstellung zu sehen.

Sie versprühen das Feuerwerk eines Frühwerks, das voll jugendlichem Elan und Russland-Begeisterung eine bunte Spielzeugwelt als Dekor für den Tanz auf dem Vulkan entwirft, der im Jahr 1933 dann schlagartig vorüber ist.