Diese Schau ist der perfekte Einstieg in den Kunstgenuss
Fast ist es ein feierlicher Moment, endlich wieder Museen besuchen zu dürfen. Doch wohin als erstes gehen, wenn alles gleichzeitig aufmacht – noch die letzten Tage der Leonilson-Retrospektive in den Kunst-Werken erwischen oder weiter vorne in der Kunstgeschichte beginnen?
„Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“ wäre der adäquate Einstieg, nicht nur weil die zwei Mal wegen Corona verschobene Ausstellung mit aller Pracht die wiedergewonnene Gemäldegalerie zelebriert. Sie erklärt auch, auf welchen Bildstrategien unsere Sehgewohnheiten fußen und woher der Schattenwurf, das Porträt, die Landschaftsmalerei kommen.
Die Jahre 1430 bis 1480 waren von großen Innovationsschüben geprägt. Von wegen ausgehendes Mittelalter und Dunkelheit – den Malern, Bildhauern, Goldschmieden leuchteten damals viele Lichter. Und doch überkommt den Besucher ein eher winterliches Gefühl, wenn er die Wandelhalle der Gemäldegalerie betritt, in der die 130 Werke ausgestellt sind.
Tiefblau sind die Ausstellungswände gehalten, wie leuchtende Broschen die Bilder davorgesetzt, sofern sie nicht als Altarretabeln selbst Wände bilden. Das Dunkel des umgebenden Raums weicht erst beim Blick auf’s Detail, das in allen Farben funkelt und Überraschungen bereithält wie jenes kleine Wundpflaster an der Wade eines Schergen Christi auf einem Altarbild. Auch das gab es damals schon.
Die Liebe zum Mittelalter aber ist nicht neu, sie ist der Gemäldegalerie in die DNA eingeschrieben. Die Begeisterung entflammte in Deutschland bereits im späten 18. Jahrhundert. Goethe pries das Straßburger Münster, die Brüder Sulpiz und Melchior Boisserée begannen in Köln zu sammeln, nachdem sie im Pariser Louvre gesehen hatten, welche Schätze Napoleon auf Raubzügen zusammenrafft hatte.
Ein neuer Realitätssinn findet Eingang in die Malerei
Gleichzeitig wurde Klosterbesitz durch die Säkularisierung zugänglich, kirchliches Inventar vagabundierte. Die neue Wertschätzung für ihre Artefakte korrespondierte mit einer Rückbesinnung auf nationale Wurzeln. In Berlin wurde das Alte Museum geplant, als erste große Kollektion altdeutscher Tafelmalerei erwarb König Friedrich Wilhelm III. die Sammlung Solly.
Sie bildet heute die Grundlage der Gemäldegalerie, die Ausstellung kann aus den Vollen schöpfen und sich bei Kupferstichkabinett, Kunstgewerbemuseum und Skulpturensammlung bedienen. Erstmals seit einer Kirchentagsausstellung in den 1980er Jahren kooperieren die vier Häuser wieder miteinander.
Welchen Sprung die Kunst in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts macht, wird heute erst nach und nach sichtbar. Unser 500 Jahre später völlig anders geschulter Blick erkennt nur langsam, dass die unbeholfen wirkenden Schlagschatten auf der „Verkündigung an Maria“ von Konrad Witz (um 1440) eine kleine Sensation darstellen. Die Risse in der Wand hinter der Muttergottes, auf die der Schatten fällt, sind ebenso spektakulär.
Ein neuer Realitätssinn hat in die Malerei Eingang gefunden. Das geht so weit, dass auf dem schrundigen Kopf eines Folterers, der mehrfach im Karlsruher Passionszyklus um 1450 auftaucht, eine Fliege sitzt, die sich nicht vom Fleck wegbewegt – ein Trompe l’oeil und Ausweis der Meisterschaft von Hans Hirtz, der als Maler vermutet wird. Und er setzt noch eins drauf: Bei der Gefangennahme Christi spiegelt sich die Fratze eines Peinigers im Panzer seines Vordermanns.
Der internationale Stil zerfällt in regionale Besonderheiten
Wenige Jahre zuvor war das noch anders. Auf dem Kölner St. Gereonsaltar von 1427 am Beginn des Ausstellungsparcours schweben schönlinige Figuren wie Außerirdische vor Goldgrund. Sie repräsentieren die Heiligen und müssen nicht weiter dem Leben entnommen wirken oder miteinander interagieren. Das ändert sich, als Jan van Eyck auftritt, dessen Genter Altar die Malerei revolutioniert. Auf einmal durchpulst Leben die Darstellung, passiert etwas im Bild, spielen Details eine Rolle.
Der bis dahin geltende internationale Stil – auch weicher Stil genannt – zerfällt in regionale Besonderheiten, mit Stefan Lochner in Köln, Hans Multscher in Ulm und Konrad Witz in Basel als prominentesten Vertretern. Sie alle entwickelten van Eycks Errungenschaften weiter. Das Verdienst der Berliner Ausstellung besteht darin, die verschiedenen Schulen und Medien zu einem Überblick zusammenzuholen und nicht wie üblich geographische Einzelentwicklungen vorzuführen, Glas- und Goldschmiedekunst, Malerei, Grafik und Skulptur getrennt zu betrachten.
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Zur rasanten Verbreitung der Neuerungen aber führt die Grafik. Ungefähr 1430 kam der Kupferstich auf, vermutlich auf dem Seitenweg über die Goldschmiedekunst. Daneben gab es Holzdruck und Radierung. Die Erfindung des Buchdrucks auf Papier machte den Erwerb billiger, als ehernes Denkmal für den Gezeitenwechsel liegt die Gutenberg-Bibel als Leihgabe der Staatsbibliothek aus.
Doch nicht nur religiöse Motive fanden Absatz, auch weltliche. Vom oberrheinischen Kupferstecher Meister E.S. stammt ein Alphabet, dessen Buchstaben aus ineinander verschlungenen Menschen und Tieren bestehen. Unsere Fähigkeit Schwarz-Weiß sehen zu können, rührt aus dieser Zeit. Die Grafikkünstler formten die körperlichen Rundungen ihrer Figuren, die Faltenwürfe der Kleidungsstücke durch millimeterdünne Kanten und haarfeine Schraffuren, Schwarz auf Weiß.
Die Landschaft emanzipiert sich
Die Bildwelten öffneten sich damals in viele Richtungen. Der neue Realismus schärfte den Blick sowohl für das Nächste, das menschliche Gesicht, als auch für die Ferne, Landschaften und städtische Topographie. Hans Pleydenwurff versucht um 1456 noch beides zu vereinen, indem er in einem Diptychon auf der einen Seite den Bamberger Domherrn Georg Graf von Löwenstein mit gefurchter Stirn und schütterem Haar porträtiert, auf der anderen typisiert den Schmerzensmann darstellt, den eine goldene Mandorla umgibt.
[Gemäldegalerie, Matthäikrichplatz, bis 5. 9.; Di bis Fr 10 – 18 Uhr, Sa/So 11 – 18 Uhr. Katalog (Hatje Cantz) 48 €.]
In Berlin kommen die beiden Tafeln aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und dem Kunstmuseum Basel zusammen. Aus eigenem Bestand stammt Albrecht Dürers Aquarell „Drahtziehmühle“ von 1489/94. Die Landschaft hat sich emanzipiert. Kurz zuvor hatte Bernhard von Breydenbach von seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land die älteste Jerusalem-Ansicht mitgebracht: Der von Erhard Reuwich stammende Holzstich illustrierte seinen Reisebericht. An den Ulmer Stadtansichten von Hartmann Schedel von 1493 kann man sich noch heute orientieren.
Zwischen Plastik und Grafik
Zu den stärksten Eindrücken der Ausstellung aber gehören die Wechselbeziehungen zwischen den Gattungen, etwa zwischen Plastik und Grafik. So ist Tilman Riemenschneiders Apostel Lukas vom Münnerstädter Altar offensichtlich von einem Porträt des Meisters des Mornauer Bildnisses inspiriert. Ein Engel aus Rogier van der Weydens Columba-Altar lässt sich im gesamten deutschsprachigen Raum immer wieder nieder.
Nicht nur in Form und Körperhaltung sind Ähnlichkeiten zu erkennen, auch in der Stimmung. Die gleiche Melancholie spricht aus Niclaus Gerhaert von Leydens Büste eines Mannes von 1467 – möglicherweise ein Selbstporträt – wie aus Dürers „Christus in der Rast“ (1492/93).
Beide stützen das Kinn in die rechte Hand. Selbst eine mentale Verfassung konnte sich über den Weg der Kunst verbreiten. Die Ausstellung in der Gemäldegalerie zeigt, wie subtil der Aufbruch in die Neuzeit war, wie zahm die Macht der Bilder, die den heutigen Betrachter spätestens vor der Tür wieder umtost..