Der Straße treu bleiben

Wie der Ort, an dem man zu Hause ist, doch am Leben mitschreibt! In den Romanen der afroamerikanischen Autorin Ann Petry spielen Straßen und Städte nicht nur eine Nebenrolle. Sie prägen ihre Figuren und Geschichten so sehr, dass man ihnen gleich auf dem Umschlag ihrer Bücher begegnet: „The Street“ hieß ihr Debüt, erschienen 1946 und ein Bestseller – das erste Werk einer schwarzen Autorin, das sich mehr als eine Million Mal verkaufte. „Die Straße“, von der der Titel spricht, findet sich im Harlem der vierziger Jahre, wohin Petry seinerzeit gezogen war.

„Country Place“ von 1947 war hingegen in der Herkunftswelt von Ann Petry angesiedelt, einem Städtchen in Connecticut, ihrem Geburtsort Old Saybrook nachempfunden. 1908 kam sie dort zur Welt, Tochter einer afroamerikanischen Mittelschichtsfamilie, die über Generationen hinweg die Profession des Apothekers ausübte. „The Narrows“, brillant ins Deutsche übersetzt von Pieke Biermann, kam 1953 erstmals heraus. Es ist der umfangreichste und komplexeste Roman von Petry, und sein Schauplatz erscheint wie eine Mixtur aus der Straße in Harlem und dem beschaulichen Country Place.

„The Narrows“ spielt in der fiktiven Kleinstadt Monmouth in Connecticut, dort allerdings im verruchtesten Teil: „Trotz all ihrer trügerischen frühmorgendlichen Schönheit war die Straße inzwischen so berühmt oder eher berüchtigt, dass, wer in Monmouth wohnte, die Dumble Street oder die Nachbarstraßen nie beim Namen nannte; die ganze Gegend, das Viertel hatte jetzt verschiedene neue Namen: Die Narrows, Nadelöhr, Ganzunten, Little Harlem, Finstereck, Niggertown, weil Negroes den Platz der früheren Einwanderer – Iren, Italiener und Polen – eingenommen hatten.“ Abbie Crunch passt eigentlich nicht in diese Gegend. Die Witwe hat nicht nur einen „leidigen Hang zur Akkuratesse“.

[Ann Petry: The Narrows. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann. Nagel & Kimche. München 2022. 543 Seiten, 28 €.]

Sie achtet sehr auf Sittsamkeit und auf die „Race“ – Pieke Biermann hat sich zu Recht dafür entschieden, diesen in den USA sozial konnotierten Begriff nicht mit „Rasse“ zu übersetzen, sondern im Deutschen beizubehalten. Abbie gehört zur alten Generation. Sie glaubt, Schwarze müssten schlicht „sauberer, schlauer, sparsamer und ehrgeiziger sein als weiße Leute, dann würden weiße Leute farbige Leute auch mögen“. Ihr Adoptivsohn Link ist schlau; der Mittzwanziger hat einen Abschluss am Dartmouth College in der Tasche und bei der Marine gedient. Was es mit der Race, die ihm zentnerschwer auf der Schulter sitzt, auf sich hat, wird ihm von seinem Ziehvater Bill Hod beigebracht.

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Der mit allen Wassern gewaschene, in fragwürdige Geschäfte verwickelte Barbesitzer nimmt den jungen Mann unter seine Fittiche. Seine Erziehungsmethoden unterscheiden sich sehr von denen Abbies: Er weiß, worauf es in den Narrows ankommt; und er ist überzeugt, dass Weiße jene Afroamerikaner noch mehr verachten, die „sauberer, schlauer und ehrgeiziger“ sind als sie. Link ist die Verkörperung einer neuen Generation. Er steht irgendwo zwischen den Polen Abbie und Bill, ist selbstbewusst und illusionslos zugleich. Statt sich in Kämpfen um einen Platz am Katzentisch einer rassistischen Gesellschaft aufzureiben, bleibt er in der Dumble Street hängen und jobbt als Barkeeper in Bill Hods „Last Chance“. Die Straße hat ihn geprägt, und er bleibt ihr treu.

Fabelhaft erzählte Milieustudie

Ann Petry nimmt sich viel Raum und Zeit, diesen Kosmos in seinen diversen Schattierungen nachzuzeichnen und die komplexen Beziehungen zwischen den Figuren, die sozialen Binnendifferenzierungen und Verwerfungen in diesem Little Harlem auszumalen. Bis zu den zahlreichen Nebenfiguren: Da ist der feine, als Butler bei der Industriellenfamilie Treadway angestellte Mr. Powther, dem Abbie Crunch eine Wohnung in ihrem Haus vermietet – was sich schnell als Fehler erweist. Seine Frau Mamie Powther nämlich verkörpert alles, was in Abbie Abscheu erregt: Sie trägt eine provozierende und zugleich naive Sinnlichkeit zur Schau, ihren prallen Formen scheint die ganze Dumble Street verfallen; sie hintergeht ihren Mann, aber weniger aus Berechnung, sondern einfach, weil die Kerle ihr nun einmal nicht widerstehen können und sie ihre Attraktivität als Geschenk betrachtet. Ihr vorwitziger Sohn J.C. wiederum gewinnt auf seine unverstellte Art das Herz von Abbie. Der wie ein „bolschewistischer Zausel“ aussehende Jubine wiederum, Fotograf mit sozialistischen Überzeugungen und Links Freund , wird im Laufe des Buches noch eine gewichtige Rolle zufallen.

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In diese fabelhaft erzählte Milieustudie webt Petry ein Ereignis von enormer Sprengkraft ein. Es zeigt sich darin, was Link über die Race gelernt hat und was es sonst noch so über eine ungleiche Gesellschaft zu wissen gilt. Link lernt eine weiße junge Frau namens Camilo kennen; sie flüchtet vor dem verkrüppelten Kriegsveteranen Cat Jimmie, der ihr mächtig Angst einjagt. Link wird zu ihrem Schutzengel. In der Dunkelheit erkennen beide nicht, wer und was sie sind. Sie glaubt, Link sei weiß; Link sieht in Camilo eine Schwarze, und erst als sie zusammen in einer Bar sitzen, bemerken sie ihr Missverständnis. Es beginnt eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, die so unwahrscheinlich wie romantisch ist, so gefährlich wie perspektivlos. Die Affäre endet erst, als Link ein Zeitungsartikel über reiche Erbinnen in die Hände fällt und Camilo auf einem Bild entdeckt. Sie ist nicht die einfache Modejournalistin, für die sie sich ausgegeben hat, sondern die Tochter der steinreichen Rüstungs-Industriellen Treadway und überdies noch verheiratet.

Eine jahrhundertealte Demütigung

Link fühlt sich nicht nur hintergangen, sondern spürt eine jahrhundertealte Demütigung – da ist sie wieder, die Race. Die Dinge überstürzen sich, und Ann Petry bringt eine nicht vorauszusehende Dynamik in den Roman. Nachdem Link Camilo verlässt, bezichtigt sie ihn einer Vergewaltigung. Die örtliche Zeitung, die auf die Anzeigen der Treadways angewiesen ist, spielt bei den folgenden Ereignissen eine unrühmliche Rolle, fährt eine Kampagne gegen schwarze Männer, die auf reißerische Weise als gewaltbereite Bedrohung dargestellt werden.

Und Jubine trägt durch eine Enthüllungsgeschichte über Camilo zur aufgeheizten Stimmung bei. Für niemanden geht diese Hexenjagd glücklich aus.

Ann Petry hat einen sprachlich bestechenden, nuancenreichen, vielstimmigen Gesellschafts- und Liebesroman geschrieben, der schließlich in eine Medienkritik mündet. In den „Narrows“ bricht die ganze Dramatik dieser von Rassismus und Klassismus durchzogenen Welt auf. Es wäre schön, sagen zu können, das Buch sei ein Zeitdokument. Leider aber ist „The Narrows“ kaum weniger aktuell als in den frühen fünfziger Jahren.