Staatsoper Unter den Linden: Bauer sucht Frau
Sogar die Bibel empfiehlt uns, manchmal etwas länger im Bett zu bleiben: „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht, denn der Herr gibt es den Seinen im Schlaf“. So heißt es in Psalm 127, zur Warnung an die allzu Ehrgeizigen. Vom Tölpel, der sich erfolgreich unter eine Traumbuche legt, wird in vielen Mythen und Märchen berichtet. Eine der schönsten Varianten dieses Topos kommt vor in dem vielvertonten Libretto, welches der venezianische Rechtsanwalt Niccoló Beregan im Jahr 1683 verfasste.
Es fußt auf der im Kern wahren, freilich wunderlich-unglaubwürdigen Lebensgeschichte des oströmischen Kaisers Justin I., der Ende des fünften Jahrhunderts als Sohn armer Bauern in der Provinz geboren wurde und später als verdienter Soldat die Karriereleiter hochkletterte – nicht zu verwechseln mit seinem Neffen und Nachfolger, Justinianus I., den man den „Großen“ nannte.
Viele Komponisten haben diese Geschichte vertont
„Il Giustino“ ist also eine politische Oper. Sie erzählt, in blitzkurzen, effektvoll irrrlichternden Szenen von den heute noch handelsüblichen Hindernissen einer solchen Laufbahn, von Verrat und Shitstorm, Intrigen und Allianzen. Abscheuliche Monster muss der brave Giustino bekämpfen, zu Lande und zur See, die Machtlust der Ehrgeiziglinge, gegen die er sich durchsetzt, reicht bis zu Putsch und Mordversuch.
Viele Komponisten, darunter Legrenzi, Albinoni, Scarlatti, ließen sich von dieser drallen Action anlocken. 1724 kam dieses Buch auch Antonio Vivaldi unter. In seiner „Giustino“-Oper dauert es keine vier Minuten, inklusive einem bereits leicht vergähnten Rezitativ, da erscheint dem jungen Mann, der da erschöpft auf dem Acker einschläft, die Göttin Fortuna. Zwei Altblockflöten wiegen ihn sanft in Terzen auf und nieder im Siciliano-Rhythmus, in purem C-Dur. Das Glück meldet sich mit einer silberglänzenden Melodie in E, die dem Publikum bereits zum Zeitpunkt der Uraufführung bekannt gewesen sein dürfte: Gekonnt zitiert Vivaldi mit Anfangstakten des „Frühling“ aus den „Quattro Stagioni“ einen seiner eigenen Verkaufsschlager.
Fortuna prophezeit Glanz und Ruhm, palme e trionfi. Giustino wacht auf. Und los gehts. In der Neuproduktion der Staatsoper Unter den Linden singt die brilliant bewegliche Mezzosopranistin Olivia Vermeulen dieses kurze Fortuna-Accompagnato. Sie unterscheidet sich in der Stimmlage zwar nur wenig von Christophe Dumaux, der den Titelhelden verkörpert, mit leicht gedeckeltem, dabei trennscharfem Altus; charakteristisch sind die beiden jedoch grundverschieden. Ja, Vermeulen kann sogar, wie sie es später in ihrer Doppelrolle als Bösewicht Amanzio vorführt, zum Gaudi des Publikums eindrucksvoll eine Oktav tiefer „stapeln“, als der oder das oder die Guten es tun. Wer Männlein oder Weiblein ist, das macht ohnhin in diesem ursprünglich nur für Kastraten geschriebenen Stück keinen Unterschied. Hier sind alle irgendwie divers.
Vivaldi liebte Frauenstimmen. Das beweisen viele seiner übrigen Werke, darunter die 21 weiteren erhaltenen Opern (von nachweislich 49, die er komponiert hat). „Il Giustino“ ist ein mittleres Werk, das er nicht für Venedig schrieb, vielmehr für Rom, wo auf päpstliches Gebot hin keine Frauen auf der Bühne auftreten durften.
Männer singen Frauen, Frauen singen Männer
René Jacobs, der zum ersten Mal eine Vivaldioper dirigiert, zur Feier seines dreißigsten Jahrestags als Gast an der Staatsoper, ht sich eine spezielle Solistencrew zusammengewünscht für diese Produktion. Männer singen Frauen, Frauen singen Männer – eine davon, Helena Rasker, als intriganter, ständig scheiternder Höfling Andronico, spielt gar einen Mann, der sich sinnloserweise als Frau verkleidet. Fast zu komisch. Doch hochvirtuos.
Auch die übrigen Sängerinnen und Sänger sind von erlesener Güte. Die Proben müssen hinreißend gewesen sein. Das Ergebnis ist nicht zu überbieten. Immer wieder brandet nach den kurzen, schnellen Arien mit dem funkelnden Passagenwerk Beifall auf. Aber auch die stillen, lyrischen werden applaudiert, etwa die von einem fallenden Grundbass beseelte Arie „Vedró con mio diletto“ des Kaisers Anastasio. Dieser Kaiser ist nur Kaiser geworden, weil seine Liebste, die Kaiserin Arianna, ihn geheiratet hat. So beginnt das Stück. Und gleich in der ersten Szene stellt sich heraus: Sie hat die Hosen an.
Kateryna Kasper gestaltet dies als einerseits charmante, funkensprühende Koloraturenschleuder, die andererseits männlichen Mut nebst dramatisch durchschlagendem Volumen zur Schau trägt, wenn das Schicksal dies erfordert. Ihr Gatte ist zwar nur ein hübscher Softy, aber doch durch und durch guten Herzens, was man auch den wundervollen Legatobögen anhört, die Mezzo-Counter Raffaele Pe, beispielsweise in der genannten Arie, mit einem intensiv schimmernden Licht erfüllt. Sopranistin und Seconda Donna Robin Johannsen spielt als Küken der Herrscherfamilie und kaiserliche Schwester insofern eine halb tragische, halb komische Rolle, als sie diejenige ist, Giustino den Weg ebnet in die bessere Gesellschaft, ihn aber nicht schützen kann vor den Fallen, die ihm dort gestellt werden.
Er rettet sie, herkulesmäßig die Keule schwingend, vor einem Bär. Sie bleibt ihm treu bis in fast in den Tod. Der Bauer, der Ruhm suchte, findet die Frau fürs Leben. So gibt es am Ende ein Happyend für alle sowie eine rauschende, von Volk und Chor mitgetragene Final-Chaconne: „Nach Wolken und Stürmen wird es endlich wieder heiter.“
Und: Endlich ist damit Vivaldi in Berlin angekommen! Nicht nur für Jacobs war dies eine First Night. Bislang hat es hier noch keine Vivaldi-Oper auf die große Bühne geschafft. Zumal „Il Giustino“ steht ja immer noch im Schatten der Oper Händels, die hier vor vielen Jahren von Harry Kupfer an der komischen Oper inszeniert worden war.
Dabei blüht längst eine zweite Vivaldi- Renaissance, wenn nicht überall anderswo, so doch immerhin auf dem Plattenmarkt, wo die Turiner Vivaldi-Edition eine Oper nach der anderen einspielt, in Referenzaufnahmen. Dass „Il Giustino“ nicht nur ein amüsantes, interessantes Gesamtkunstwerk ist, sondern auch bühnentauglich, außerdem ein musikalisch reifes Meisterwerk, hat Jacobs nebst feurig aufspielender Akademie für Alte Musik nun ein für allemal bewiesen.
Etliche Intendanten anderer Opernhäuser wurden bei der Premiere gesichtet. Vielleicht kann man demnächst auf Nachahmung hoffen. Hoffentlich ließ sich niemand von der blassen, biederen Inszenierung abschrecken. Die Regisseurin des Abends, Barbora Hotáková, hat sich wohl, wie man nachträglich im Programmhheft nachlesen konnte, leider etwas zu viel gedacht: ein durchsichtiges, leeres Bühnenbild aus Papp-Prospekten und Stoffbahnen, Kinder als Doubles, ein Seemonster aus Gummi-Seetang, Amor und Psyché auf Wattewolke, Donner und Blitz und jede Menge dumme Witze, Krinolinen, Gold und Schminke. Es war dauernd was los. Nur kein Leben drin. Dafür sorgte allein die Musik.
Weitere Aufführungen am 22. und 27. November sowie 2. und 6. Dezember.
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