Schneiden, nähen, morden
Schneidern hat mit Kunst nichts zu tun, es ist ein Handwerk, sagt der Schneider Leonard Burling. Was man dafür benötigt, ist Präzision, eine ruhige Hand sowie einen Plan, dem strikt gefolgt werden muss. Ein zweiteiliger Herrenanzug besteht aus 38 Stücken Stoff, hergestellt wird er in 228 Arbeitsschritten, erklärt Burling aus dem Off, unterlegt mit Cool Jazz.
Nicht mitgerechnet der Tee, den er kocht, bevor er mit ratschendem Geräusch Kartonpapier von der Rolle reißt und das Schnittmuster zeichnet und ausschneidet. Die goldene Regel lautet: „Du kannst nichts nähen, bevor du nicht weißt, wofür es gebraucht werden soll.“
Graham Moores Thriller „The Outfit“ spielt 1956 in Chicago, wo der vom britisch-amerikanischen Schauspieler Mark Rylance verkörperte Held ein Geschäft für maßgefertigte Anzüge aufgebaut hat. Er stammt aus England, hat sein Handwerk an der berühmten Savile Row in London erlernt. Aber nach dem Krieg kam erst die Wirtschaftskrise und dann die Blue Jeans, die den Umsatz ruinierten. Für letzteres macht Burling, halb im Scherz, James Dean verantwortlich.
Keine Gefühle zeigen
Über einen anderen, traurigen Grund dafür, dass er in die USA ging, spricht er lieber nicht. Wie er es ohnehin, sehr britisch, vermeidet, Gefühle zu zeigen. Zum Beispiel gegenüber seiner Angestellten Mable (Zoey Deutch), der er sich väterlich verbunden fühlt. „Die Dinge, die ich herstelle, sind zeitlos“, stellt der Maßschneider fest. Er legt Wert darauf, kein „Tailor“, sondern ein „Cutter“ zu sein. Also ein Anzugmacher und niemand, der in kurzer Zeit etwas zusammennäht.
Der Filmtitel hat einen doppelten Boden. „Outfit“, so lautet die Bezeichnung für Kleidung, aber auch für eine bereits vor der Zeit von Al Capone gegründete Mafiaorganisation in Chicago. Im hinteren Teil des Ladens, wo Burling seine Waren fertigt, hängt ein Briefkasten, in dem die Mitglieder eines irischen Mafia-Zweigs Nachrichten hinterlegen. Nun landen dort Drohbriefe des Outfit-Clans. Es muss eine „Ratte“ geben, einen Verräter, der für das FBI arbeitet. Wer es ist, das soll auf einem Tonband zu erfahren sein, das per Päckchen eingeworfen wurde.
Eine Ratte jagen
Revierkämpfe, Angst und Verrat. Ähnliche Geschichten aus der Welt der organisierten Kriminalität sind schon oft erzählt worden. Herausragend ist „The Outfit“, weil die Handlung sich auf einen Ort beschränkt, der unscheinbarer nicht sein könnte. Der Film spielt ausschließlich in den drei Räumen des Schneiderladens – Empfang, Werkstatt und Hinterzimmer –, manchmal sieht man im Gegenschnitt das Gebäude von außen.
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Regisseur Graham Moore hat das Drehbuch des Kriegsdramas „The Imitation Game“ geschrieben, „The Outfit“ ist der erste Film, den er inszenierte. Manche Szenen erinnern an ein Theaterstück, etwa wenn Mable eine Schneekugel mit Londoner Wahrzeichen geschickt bekommt und sie dann neben andere Schneekugeln aus aller Welt ins Regal stellt. Sie träumt vom Aufbruch und vom Reisen, während Burling in ihr eine Nachfolgerin für sein Geschäft sieht.
Oder wenn Richie Boyle (Dylan O’Brien), der Sohn des Mafiabosses, und sein Komplize Francis (Johnny Flynn) Burling immer herablassend „English“ nennen und ihn, um in Ruhe reden zu können, aus dem Zimmer schicken. Der Schneider reagiert devot mit „Gentlemen, Sie entschuldigen mich!?“, hält sie aber insgeheim nur für Kunden, nicht jedoch für Gentlemen. Schon dass ihre Jacken ausbeulen, weil sie darunter Pistolen tragen, wirkt wenig ästhetisch.
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Mark Rylance, der für seine Rolle als Sowjetspion in Steven Spielbergs Film „Bridge of Spies“ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, beherrscht die Kunst, von dem, was im Kopf seiner Figur vorgeht, nur das nötigste preiszugeben. Undurchschaubar zu bleiben, das ist für den Helden von „The Outfit“ genauso überlebenswichtig, wie es für den von Rylance in der Serie „Wölfe“ gespielten Thomas Cromwell war, Staatsmann unter Heinrich VIII. Unberechenbar agiert auch Mable, die sich eine Affäre mit dem Mafia-Thronfolger Richie eingelassen hat.
Die Familie Boyle mag die Outfit-Männer fürchten, bekommt es aber erst einmal mit den LaFontaines zu tun, afroamerikanischen, französisch sprechenden Gangstern. Nach einem Gefecht taucht Richie mit einer Schusswunde im Laden auf. Francis zwingt Burling mit vorgehaltenem Revolver, die Durchschusswunden zu nähen. Aus dem Schneidertisch wird ein OP-Möbel, der Anzugmacher flickt den Verletzten zusammen. Später beweist er, dass er auch mit seiner Schere umzugehen weiß.